Michael Kugler: Die interkulturelle Dimension des Orff-Schulwerks

„Das Schöpferische wirkt erhabenes Gelingen, fördernd durch Beharrlichkeit.“ (I Ging)

„Verbal language emerged with our present Homo sapiens sapiens some 70.000 years ago, and it is clearly more efficient for cultural adaptation. But ‚music’ and ‚dance’ did not die out. Their survival suggest that their evolutionary value has resided in their effectiveness as nonverbal language …“ (John Blacking 1995, S. 237)

„Orff and Keetman became the vehicles to express a deep need in Western culture, the need to rejoin all that had been torn asunder by the specialist nature of the European civilisation.“

(Doug Goodkin 2002, S. 7)

„…es geht sogar darum, dass die deutliche Forderung des Schulwerks, sich auf das eigene Volksgut zu beziehen, in manchen Teilen der Welt eine Besinnung auf eigene Quellen und ein Streben nach kultureller Identität ausgelöst hat.“ (Regner 1984, S. 787)

„Die Eigenständigkeit der Entwicklungen in anderen Kulturen zu stärken und den ‚Export’ zu verhindern, ist einer der Grundsätze interkultureller Arbeit des Orff-Instituts.“ (Regner 1993/94, S. 13)

„Es galt (und gilt) also Wege zu finden, wie Musik und Tanz der eigenen Kultur als lebendige Basis für pädagogisch künstlerische Prozesse fruchtbar gemacht werden kann.“ (Jungmair 2002/03, S. 28)

 

  1. Das Elementare und die ‚Elementare Musik’ (C. Orff)

1.1 Die Suche nach dem expressiven Potential

Seit etwa hundert Jahren gewinnt die Erneuerung künstlerischer Konzepte in Europa wesentliche Anregungen aus der Begegnung mit dem sog. ‚Primitiven’ oder ‚Elementaren’. Es geht dabei nicht um die Imitation exotischer Kunst sondern um das Erschließen eines dynamischen Potentials für das künstlerische Arbeiten in einer Kultur, die den Kontakt zu ihren kreativen Kräften verloren hat. Es ist hinreichend bekannt, dass Schriftsteller und Künstler wie Gustave Flaubert und Paul Gauguin förmlich aus Europa geflüchtet sind, um sich von fremden Kulturen und den Rätseln ihrer Kunst berühren und anregen zu lassen. Andere wie Claude Debussy und Pablo Picasso begegneten exotischer Kunst in Europa und erlebten hier die Konfrontation mit dem Primitiven, Ursprünglichen, Elementaren, aus dem heraus Wandel und Neuschöpfung versucht und ermöglicht wurde[1].

Aus der historischen Distanz zeigt sich heute deutlich, dass Bezugnahmen auf ‚Ursprünglichkeit’ unbedingt nach den Zielen, Begründungen und Ergebnissen präzise unterschieden werden sollten, wie beispielsweise Rückgriffe auf Ethnokulturen bei Pablo Picasso, Georges Braque und Max Ernst, der Expressionismus und sein „Ursprünglichkeitsmythos“[2], Rückgriffe auf die griechische Antike im Neuhellenismus der Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze[3] und weitere. Wichtig für die Dynamik dieser Begegnung mit frühen Hochkulturen und nicht-westlichen Kulturen ist sicher, dass basale Strukturen im Hinblick auf Farben, Formen, Klänge, Bewegungen neu entdeckt wurden und dass andererseits „das Elementare als voraussetzungslose Ursprünglichkeit des schaffenden Prinzips“ eben „nicht als Wirklichkeit, eher als Wunsch, Wirklichkeit herzustellen“[4] aufgefasst wurde. Auf jeden Fall stellt die Kategorie des ‚Primitiven’ oder ‚Elementaren’ eine Interpretation fremder kultureller Merkmale vor dem Hintergrund der eigenen europäische Kultur dar. Sie ist als Bedeutungszuschreibung zu verstehen und als Ergebnis einer Suche.

Was für Debussy die Begegnung mit indonesischer Gamelan-Musik und für Picasso mit Masken afrikanischer Stammeskulturen bedeutete, das wurde für Orff das Experimentieren mit Schlaginstrumenten, vor allem die Konfrontation mit einer westafrikanischen Marimba. Die Berichte Orffs und Keetmans über ihre gemeinsame, die kulturellen Grenzen sprengende Arbeit an der Günther-Schule strömen heute noch den Enthusiasmus pionierhaften Erlebens aus. Aus der Werkstattarbeit der Günther-Schule entsteht Anfang der dreißiger Jahre das OSW „Elementare Musikübung“ und aus der Werkstattarbeit an Schulfunksendungen am Anfang der fünfziger Jahre das OSW „Musik für Kinder“. In den fünfziger Jahren kommen ausländische Studenten nach Salzburg ans Mozarteum und in den sechziger Jahren an das inzwischen gegründete Orff-Institut, um sich in der Konzeption des Orff-Schulwerks ‚Elementare Musik- und Bewegungserziehung’ ausbilden zu lassen.[5]

Wenn man Berichte über die Realisierung des Orff-Schulwerks in aller Welt[6] verfolgt, steht man vor einer merkwürdigen Tatsache. Während das Orff-Schulwerk in der deutschen Musikpädagogik als mehr oder weniger überholtes historisches Konzept der musischen fünfziger Jahre gesehen wird, springt einem aus den ausländischen Berichten Aufbruchsstimmung, Emotionalität und Lebendigkeit entgegen. Beim historischen Überblick über die internationale Rezeption[7] des OSWs kommt dazu ein Erstaunen, wie frühzeitig hier kulturelle Begegnung und kultureller Austausch stattfanden und welch großen zeitlichen Vorsprung Bemühungen um interkulturelles[8] Verstehen sowie die Aktivierung fremder kultureller Potentiale in der Werkstatt des Salzburger Orff-Instituts im Vergleich zu den wesentlich später einsetzenden Versuchen der Interkulturellen Musikerziehung in Deutschland haben. Dabei muss hervorgehoben werden, dass Irmgard Merkt, die Pionierin dieses Ansatzes[9], sowohl die musikanthropologischen Beziehungen wie die kulturvermittelnden Möglichkeiten des Orff-Instrumentariums erkannt und didaktische Perspektiven dafür aufgezeigt hat[10].

An der Rezeption des Orff-Schulwerks durch Studierende aus aller Welt wird deutlich, dass Pädagogen, die nicht mit der, nur in Deutschland historisch verständlichen, Diskussion über den ideologischen Hintergrund der Musischen Erziehung belastet sind, das Orff-Schulwerk sofort richtig von seinem anthropologischen und pädagogischen Kern her verstehen. Arnold Walter beispielsweise, Pionier des OSWs in Kanada, sieht schon 1956, also viele Jahre vor dem Kreativitätsboom, die wichtigste Eigenschaft des Schulwerks in der Förderung von Kreativität durch Improvisation:

„The primary purpose of music education, as Orff sees it, is the development of a child’s creative faculty wich manifests itself in the ability to improvise. This cannot be achieved by supplying ready-made and usually much too sophisticated material of the classical variety, but only by helping the child to make his own music, on his own level, integrated with a host of related activities.“[11]

 

Der zweite wichtige Aspekt der Schulwerkrezeption liegt in der Sensibilisierung für Musik und Tanz der eigenen kulturellen Tradition. Dieser Impuls ging bereits von Orff selbst aus. Das belegt beispielsweise das Statement von Shen Su Karner, einer ehemaligen Studentin aus Taiwan, zu der Orff Anfang der 70er Jahre gesagt hat: „Du, bleib so, wie du bist, schreib die Musik, die du als Kind gekannt hast, sing und beweg dich, als ob du noch in deiner Heimat wärst.“[12] Und es sicher richtig wenn Karner feststellt, dass Orffs Worte „die grundlegenden Werte der interkulturellen Erziehung, nämlich Toleranz, Akzeptanz und Respekt vor dem anderen, dem Fremden“[13] beinhalten. Orff hat für die Schulwerk-Ausgaben in anderen Ländern gefordert, „die jeweils einheimischen Kinderlieder und –reime“[14] im Sinne des Schulwerks neu zu fassen, d.h. tradiertes musikalisches und tänzerisches Material aufzugreifen und er hat mit großer Flexibilität zur Kenntnis genommen, dass sich bei zunehmender Integration von ursprünglich fremdem Material auch Aufbau und Gliederung der Schulwerk-Publikationen ändern können[15]. Zukunftsträchtig hat sich Orffs Haltung dahingehend ausgewirkt, „dass die deutliche Forderung des Schulwerks, sich auf das eigene Volksgut zu beziehen, in manchen Teilen der Welt eine Besinnung auf eigene Quellen und ein Streben nach kultureller Identität ausgelöst hat“[16], wie H. Regner feststellt.

 

1.2 Von der Idee zur Konzeption

Orffs Idee des ‚Elementaren’ hat, metaphorisch gesprochen, eine Mutter und einen Vater, die große deutsche Ausdruckstänzerin Mary Wigman und den Musikwissenschaftler Curt Sachs.[17] Wigman steht für den tänzerischen Expressionismus ihrer Zeit, Sachs für den wissenschaftlichen Blick auf die Musik in den Kulturen der Welt. Wigman verkörpert die expressionistische Tänzerin, die nicht nur bis in tiefenpsychologische Dimensionen vordringt sondern sich auch durch Aspekte fremder Tanzkulturen wie Ritus, Maske und Perkussion inspirieren lässt. Sachs verkörpert den universal denkenden Wissenschaftler, der die Grenzen eurozentrischen Denkens bereits in den zwanziger Jahren hinter sich gelassen hat, und dem es deshalb gelingt, Musik und Tanz auf der Basis weltweit gesammelter Fakten und Daten als transkulturelles, anthropologisches Phänomen zu deuten. Beide stehen vor allem für die Wiederentdeckung des Körpers in der Kultur der Jahrhundertwende um 1900 und verweisen auf unmittelbare und symbolische Wege zum Körper. Expressive Körperlichkeit als sinnenhafte Erfahrung und als symbolische Bedeutung stellt auf jeden Fall den Kern des ‚Elementaren’ dar, wie er Orff bei der Begegnung mit dem Tanz Mary Wigmans intuitiv aufblitzt.[18] Beide, Wigman und Sachs, überwinden bereits vor neunzig Jahren das kulturell „Fremde als Grenze“[19] und können deshalb als Schlüsselfiguren in einer Vorgeschichte der Interkulturalität gelten.

Die Begegnung Orffs mit M. Wigman und C. Sachs ist von einer Haltung intuitiver Rezeptivität getragen, die es sinnvoll macht, bei Orff zunächst von einer ‚Idee’ und nicht von einer ‚Theorie’ der Elementaren Musik zu sprechen und davon wiederum die ‚Konzeption’ des OSWs zu unterscheiden. Eine Idee dient in Anlehnung an philosophisches Denken als intuitives geistiges Urbild. Für Orffs Idee des Elementaren ist zu bedenken, dass es die Idee eines Künstlers und nicht eines Pädagogen oder Wissenschaftlers ist. In ihr fließen deshalb Aspekte des seelisch Unbewussten mit emotionalen und kognitiven Aspekten des künstlerischen Schaffens zusammen. Das lässt sich am besten an Orffs Verhältnis zur Sprache veranschaulichen. Wesentlich ist daran nicht nur, dass seine Quellen den Bogen vom antiken Griechisch bis zum Altbairischen spannen, sondern vor allem, dass die expressive rhythmische und klangliche Sprache gleichzeitig künstlerisches Medium des Bühnenwerks und pädagogisches Medium des Schulwerks ist.

Natürlich lässt sich Orffs Idee des Elementaren durch eine Theorie des Elementaren und der Elementaren Musik hermeneutisch interpretieren, wie das Ulrike Jungmair[20] überzeugend getan hat. Hervorheben möchte ich aus ihrer Begriffsanalyse einerseits, „dass das Elementare im Verständnis Carl Orffs nur als kategorial Menschliches, also in seiner anthropologischen Dimension interpretiert werden kann“[21] und dass die älteste, auf die Vorsokratiker zurückgehende Begriffsgeschichte eine „ursprüngliche Bedeutung von Element als dem Hervorbringen wie die des Bildes von der selbsttätig aus dem Boden wachsende Wurzel als einem dem Wesen nach Treibenden“[22] nahe legt.[23]

Orff musste sich als Musiker an der Günther-Schule natürlich bald darüber klar werden, auf welcher klanglichen Basis improvisatorisches Hervorbringen von Musik realisiert werden könnte. Für den von C. Sachs musikethnologisch beeinflussten Komponisten kam hier nur eine Grenzüberschreitung in Frage. Er entschied sich für die Herausforderung, den wohlangelegten Garten der klassisch-romantischen Kunstmusik zu verlassen und die Vielfalt der rhythmisch-melodischen, modalen orientalischen Musik zu erneuern, die ja ohnehin die abendländische Kunstmusik bis zum Ende des  Mittelalters mitgeprägt hat. Die aktuell diskutierte interkulturelle Musikerziehung lässt Orffs Weg als visionäre Pioniertat erscheinen, müssen sich doch heute Musiklehrer mit Kindern und Jugendlichen befassen, in deren muslimischen Herkunftskulturen vom Maghreb bis Indonesien das rhythmisch-melodische Strukturprinzip den traditionellen Musikbegriff von über einer Milliarde Menschen prägt, wenn man von den Einflüssen westlicher Popmusik einmal absieht.

 

1.3 Vom abendländischen Musikbegriff zur Perspektive der ‚World Music’[24]

Der musikalische Enkulturationsprozeß wird normativ durch das gesteuert, was eine Kultur unter Musik versteht, also durch den Musikbegriff oder das „Musikkonzept“[25]. Über solch einen meist impliziten Musikbegriff verfügen nicht nur traditionelle Kulturen sondern selbstverständlich auch die Teilkulturen einer modernen Industriegesellschaft. Auch die Musikpädagogik bedient sich eines solchen Musikbegriffs, dessen impliziter Charakter sowie kunstmusikalische und eurozentrische Enge, wenn ich richtig sehe, erst seit dem Beginn der siebziger Jahre unter dem kulturellen Druck der Populären Musik allmählich in Frage gestellt wurde. Ich habe an anderer Stelle[26] herausgearbeitet, dass Orff unter dem Einfluss des Ausdruckstanzes, der Musikethnologie und der tänzerischen Musikpraxis der Günther-Schule München den Musikbegriff der europäischen Kunstmusik relativiert und um die Verhaltensaspekte Motion, Perkussion, Improvisation sowie die unmittelbare Beteiligung am musikalischen Prozess in der Gruppe erweitert hat[27]. Dazu kommen Strukturaspekte wie Dominanz des Rhythmus, rhythmisch-melodischer Bau, Monoklanglichkeit, modales Skalenverständnis, Patternstrukturen und formale Einfachheit[28]. Letztere lassen sich mit dem Begriff der Reduktion deuten. Eine gewisse Nähe zum kompositorischen Minimalismus ist bei Orff selbst[29] sowie vor allem bei G. Keetman und damit sowohl für den tänzerischen Musikstil der Günther-Schule als auch für das OSW ‚Elementare Musikübung’ feststellbar[30]. Mit diesem veränderten Musikbegriff verlässt Orff als Komponist die zumindest bis in die fünfziger Jahre nicht in Frage gestellte stilistische Entwicklung der Moderne, ein Vorgang, den Horst Leuchtmann metaphorisch als „Ausstieg aus der Zeit“[31] gedeutet hat.

Zunächst zum perkussiven Prinzip in der Musik. Die Dominanz perkussiver Tonerzeugung[32] in den Kulturen der Welt und die Dominanz perkussiver Instrumente darf hier ebenso als bekannt vorausgesetzt werden wie ihre Verbreitung in der Musik des Mittelalters und ihre rasche Verbannung aus der abendländischen Kunstmusik seit dem 16. Jahrhundert. Der von einer aristokratischen und bürgerlichen Gesellschaft unterstellte ästhetische Unwert dieser Instrumente in Europa spiegelt sich noch am Anfang des 20. Jahrhunderts im Begriff ‚Geräuschinstrumente’[33]. Und so scheiden sich in musikpädagogischen Diskussionen am sog. Orff-Instrumentarium rasch die Geister. Kantabilität, strömender Klang, affektive Verstärkung des punktuell erklungenen Tons sind nicht möglich und werden in einer eurozentrischen Musikästhetik, die sich nur auf die Kunstmusik des 18. bis 20. Jahrhunderts stützt, schmerzlich vermisst. Deshalb spielen Schlaginstrumente ungeachtet ihrer Dominanz in der populären Musik und in der Musikszene der Freizeitpädagogik in der akademischen Schulmusikausbildung nach wie vor eine marginale Rolle, sodass ein fachgerechter Umgang mit der Perkussion in der schulischen Praxis immer noch selten ist. Werden Rahmentrommeln, Bongos, Congas, Djembe usw. fachkundig eingesetzt, kann man davon ausgehen, dass sich die betreffenden Musiklehrer die Spieltechnik eigeninitiativ  angeeignet haben.

Diese negative Einstellung der akademischen Musikpädagogik zur Perkussion lässt sich unmittelbar mit der Verbannung des Tanzes aus dem Musikunterricht in Verbindung bringen. Den Hintergrund bildet das problematische Verhältnis der christlich geprägten abendländischen Kultur zum Körper und zum Tanz[34]. Die Rhythmus- und Tanzbewegung der Jahrhundertwende um 1900, zu der auch der Elementare Tanz der Günther-Schule zu zählen ist, hat eine revolutionäre Veränderung im Hinblick auf Körpergefühl, Bewegungserfahrung, Lebensgestaltung und Ästhetik erreicht[35], sodass der motionale Aspekt in Orffs Konzept der ‚Elementaren Musik’ nicht nur in Details wie dem  Elementaren Tanz und der Dirigierübung gesehen werden darf sondern in der fundamentalen neuen Bewertung der Körperlichkeit im Rahmen aller musikalischen Gestaltungsprozesse.

Im übrigen sind Motion und Perkussion anthropologisch betrachtet zwei Seiten derselben Medaille. Rhythmische Tanzbewegungen und rhythmische Körperperkussion bilden als psychomotorische Einheit ein Urmodell des musizierenden Menschen. Durch seine Zuordnung zum Wesen der Fahrenden und Gaukler hat sich die höfische Kunstmusik seiner bereits im Mittelalter entledigt[36]. Andererseits goutiert der gebildete Mitteleuropäer heute im andalusischen Flamenco begeistert ein musikalisches Verhaltensmodell, das eigentlich seiner musikästhetischen Ausrichtung zutiefst widerspricht. Bereits in der explorativen Werkstattarbeit an der Günther-Schule (1924-44) hatten Orff und Keetman alle wesentlichen Umgangsweisen mit Musik erprobt und wiederentdeckt, durch die der Verbindung von Motion und Perkussion wieder zu ihrer anthropologischen Bedeutung verholfen wird. Die Vorbereitung improvisatorischer Prozesse durch Körperperkussion, Orffs improvisationsdidaktische ‚Dirigierübung’, Keetmans bewegungsbezogener Rhythmikunterricht und das Einbeziehen von Perkussionsinstrumenten in die Choreographien von Maja Lex waren in der Lage, die Normen des klassisch-romantischen Musikbegriffs aufzulösen und das Hervorbringen von Tönen wieder mit tänzerischen Bewegungsformen in Verbindung zu bringen. Genau dadurch wurden Gemeinsamkeiten mit nicht-westlichen Musikkulturen und mit Volksmusiktraditionen Europas wieder erkennbar und die seit den sechziger Jahren beginnenden interkulturellen Musikbeziehungen möglich.

Der dritte Aspekt einer Erweiterung des abendländischen Musikbegriffs ergibt sich aus der Wiedereinführung der Improvisation. Dass die Ausgrenzung der Improvisation aus unserer Musikpraxis erst knapp zweihundert Jahre alt ist und es deshalb an der Zeit wäre, sie in den  Instrumentalunterricht zurückzuholen, hat Volker Biesenbender in mehreren lesenswerten Aufsätzen dargetan.[37] Bei der von Orff und Keetman geschaffenen Schulwerkpraxis umfasst der Begriff ‚Improvisation’ drei Aspekte:

Improvisation bedeutet ein Ausprobieren von Möglichkeiten, was sich besser mit dem Begriff Exploration fassen lässt.

Improvisation bedeutet ein Musizieren ohne Notation, das sich zunächst auf das Hören stützt.

Improvisation bedeutet ein Musikmachen aus dem Stegreif, das sich auf bereits erprobte und vorstrukturierte Bausteine stützen kann.

Diese drei Teilaspekte der Improvisation bringen grundlegende Prinzipien der Musizierpraxis in den Kulturen der Welt wieder zur Geltung[38]. Das Zurückstellen der Notenschrift nimmt darauf Rücksicht, dass das schriftgebundene Musizieren des Abendlandes im Vergleich zur weltweit geübten oralen Vermittlung ohnehin einen Sonderfall darstellt. In der neuern Instrumentalpädagogik ist man sich heute der Tatsache bewusst, dass ein ausschließlich schriftgebundenes Instrumentallernen späteres Improvisieren behindert. Die Exploration gesteht dem musizierenden Menschen wieder das kreative Stadium seiner musikalischen Frühgeschichte zu, nämlich das Bedürfnis, dem eigenen Körper und verschiedenem Material Klänge und Töne zu entlocken. Die Improvisation im engeren Sinne versteht sich als die Kunst, mit Material und Möglichkeiten einer bestimmten Musikart oder eines Musikstils in immer wieder neuer, oft auf die Performance-Situation hin veränderten Form umzugehen. Als sinnbezogene Mitteilung erfordert Improvisation die Beachtung von Regeln, die den Zuhörern bekannt sein oder verständlich gemacht werden müssen, da sonst das Besondere der spontanen Vollzüge nicht gewürdigt werden kann[39]. Improvisation in der nicht-westlichen Kulturen ist nicht nur von vorgegebenen Strukturen geprägt sondern auch vom sozialen Kontext beeinflusst. Bei einem Improvisationsereignis westlicher Musiker heute dominiert das Ausdrucksbedürfnis musizierender Individuen, die nach besonders originellen Lösungen suchen. Bei Improvisationen in nicht-westlichen Kulturen dominiert das Bedürfnis, dem Publikum bestimmte Stücke und Strukturen, die es als Rahmen bereits kennt, in einer kontextabhängigen Form zu bieten und damit eine Steigerung des Musikerlebnisses zu erreichen.

Die geistige Voraussetzung für die weltweite Rezeption des OSWs, wie sie der von André de Quadros (2000) herausgegebene  Band eindrucksvoll dokumentiert, wurde durch die Veränderung des Musikbegriffs in der Günther-Schule geschaffen, den C. Orff inspiriert hat, dessen konkretes Erscheinungsbild in der künstlerischen Produktion und in den Kursen der Günther-Schule jedoch als Team-Leistung verstanden werden muss: D. Günther, M. Lex, G. Keetman, H. Bergese waren, jeder auf seine Weise, daran beteiligt. Durch tänzerische und expressive Körperbewegung, perkussives Musizieren und improvisatorische Gestaltung wurden die eng gewordenen Grenzen des kunstmusikalischen abendländischen Musikbegriffs, den H. Rösing mit dem Begriff „Sonderfall Abendland“[40] treffend charakterisiert hat, gesprengt, sodass das gemeinsame Vielfache von europäischem und weltweitem Musizieren wieder greifbar werden konnte.

Dabei kommt der Improvisation sicher die größte Dynamik zu, wobei aber immer wieder betont werden muss, dass Improvisation in Musikkulturen mit tradierten Rahmenbedingungen anders zu verstehen ist als in der von den fluktuierenden sozialen und kulturellen Bedingungen von Moderne und Postmoderne abhängigen Musikpädagogik. Improvisation dient „in der modernen westlichen Welt als Befreiung vom einzwängenden Alltag“ und wird zum Medium der „maximalen Expressivität einer stark ichbezogenen Musik“[41]. Das betrifft auch das Improvisieren der siebziger Jahre, dem noch heute die subjektiven Befreiungs- und Ausbruchsversuche anzumerken sind. H. Regner hat deshalb vor einer Überschätzung von Kreativität und Spontaneität gewarnt und daran erinnert, dass ja für Improvisation im OSW vorbildhafte Modelle existieren:

„Wir überbetonen und überbewerten die Eigenaktivität und die Eigenkreativität und halten unsere Spontanerfindungen für viel zu gut, als dass wir sie messen würden an Modellen, die von Gunild Keetman oder Carl Orff im Schulwerk überliefert sind.“[42]

 

Er sieht mit Recht die Gefahr einer Improvisationspraxis, in der sich das Individuum nicht mehr an normgebende Traditionen bindet und sich mit ihr auch gar nicht mehr auseinandersetzt. Indem Regner solche Bindungen und Grenzen einfordert, versucht er, einen ästhetisch und pädagogisch isolierten Improvisationsbegriff wieder auf das Terrain weltweiter, musikanthropologisch begreifbarer und begründbarer Improvisationsrealität zurückzuholen.

 

  1. Orffs Elementare Musik’ als Vorreiter der interkulturellen Perspektive

2.1 Kulturelle Tradition

Ohne die in den 1990er Jahren in Gang gekommene Diskussion über die Interkulturelle Musikerziehung im Detail aufzugreifen, ist festzustellen, dass sich die Fachauseinandersetzung in der deutschen Musikpädagogik vorwiegend Wunschvorstellungen und Postulate formuliert und sich zu wenig um musikanthropologische und kulturwissenschaftliche Fundierung bemüht hat. Das beginnt bei dem mangelhaften Nachdenken über den Kulturbegriff[43] bzw. über den Musikbegriff und einer permanenten terminologischen Unschärfe, vor allem seit V. Schütz zusätzlich das dann von D. Barth ausführlich diskutierte Konzept der Transkulturalität[44] ins Gespräch gebracht hat. Nun hat ja Orff auf Grund der Anregungen von C. Sachs seine Werkstattarbeit in der Günther-Schule München so angelegt, dass nicht fremdkulturelle Musik wissenschaftlich analysiert, sondern Musik auf der Basis elementarer (wie er es nannte) musikalischer Verhaltensweisen realisiert wurde. Nicht durch das Aufgreifen ethnomusikologischer Theorie sondern durch musikanthropologisch inspiriertes musikalisch-tänzerisches Vorgehen wurde der abendländische Musikbegriff aus seiner Fixierung an das notierte Musikwerk befreit und damit nicht nur den Günther-Schülerinnen sondern allen zukünftigen Novizen dieser Konzeption ein neuer Zugang zur Tradition der älteren europäischen Kunstmusik und der Kulturen der World Music geöffnet.

Die interkulturelle Dynamik des OSWs führt deshalb zunächst einmal zu einer intensiven Suche der OSW-Lehrer nach authentischen Traditionen in den Bereichen Musik, Tanz und Spiel. Sie führt weiterhin zu ethnomusikologischen Aktivitäten, um noch mehr zu entdecken und um die Adaptierbarkeit des entdeckten Materials zu prüfen. Die dabei gemachten Entdeckungen sind eindrucksvoll[45] und es existiert eigentlich keine musikpädagogische Konzeption der Gegenwart, die im Hinblick auf die interkulturelle Perspektive vergleichbares hervorgebracht hätte.

Außerdem hat die interkulturelle Dynamik des OSWs viele ihrer Experten zu einer Wiederbesinnung auf Fragen der kulturellen Identität geführt. Von den aufschlussreichen autobiographischen Skizzen ehemaliger Studenten des Orff-Instituts nehme ich hier exemplarisch auf Insuk Lee[46] Bezug. Seine Schulzeit fiel in einen Zeitabschnitt, in dem wegen der japanischen Besetzung Koreas koreanische Kultur und Sprache unterdrückt und außerdem nur westliche Musik rezipiert wurde. Lehrer und Studierende des Orff-Instituts bringen die Suche nach seiner kulturellen Identität in Gang:

„Als ich von Lehrern und Studenten vom Orff-Institut nach koreanischer Musik gefragt wurde, wusste ich noch sehr wenig über sie und fing an, mich mehr dafür zu interessieren. Ich besaß damals eine Schallplatte, einen Querschnitt durch die Musikarten für unterschiedliche Anlässe, gespielt auf verschiedenen Instrumenten. Darauf basierte mein ganzes Wissen… Für meine Abschlussprüfung gestaltete ich eine koreanische Sage, wobei ich viele koreanische Instrumente verwendete. Nach elf Jahren, als ich mit einem deutschen Pass endlich wieder nach Korea reisen konnte, unternahm ich alles, um soviel wie möglich mitzubekommen von koreanischer Musik und koreanischem Tanz.“[47]

Es trifft also zu, dass die besonderen pädagogischen Prinzipien des Orff-Instituts bei den Studierenden die Arbeit an der eigenen kulturellen Identität voranbringen kann und damit natürlich auch einer eurozentrischen Einstellung entgegenwirken kann.

Im Grunde beginnt die Erschließung der interkulturellen Perspektive mit Hilfe des OSWs bereits mit den Unterrichtsversuchen des griechischen Musikhistorikers Thrasybulos Georgiades 1936 in Athen[48]. Er erkannte als erster, dass sich das OSW nicht auf die strukturellen und ästhetischen Normen europäischer Kunstmusik festlegt und genau dadurch die Öffnung für die Musik anderer Kulturen ermöglicht. Dass dieser Weg schwierig ist und dass er tief in das Nachdenken über kulturelle Gegebenheiten von Musik und Tanz hineinführt, zeigt der weitere Weg des OSWs in Griechenland deutlich. Obwohl Polyxene Mathéy an der Günther-Schule das Prinzip Musik und Bewegung von Orff unmittelbar übernommen[49] und ihre beiden Schulwerkhefte „Griechische Kinderlieder und Tänze“ (1963, 1968) unter Beteiligung von Gunild Keetman und Margret Murray entworfen hatte, stellte sich später heraus, dass man doch gewisse Wurzeln griechischer Volksmusik nicht genügend berücksichtigt hatte[50]. Vor allem die Tonarten der anatolischen Tradition sowie die Möglichkeiten der improvisatorischen Melodieführung erforderten neue Wege. Diese werden inzwischen eingeschlagen, wie der zweijährige Ausbildungskurs der Moraiti-Schule in Athen mit Fächern wie Musikethnologie, Volksmusikkunde, Volkstanz und Spiel auf griechischen Instrumenten[51] deutlich zeigt.

Insgesamt ist zu beobachten, dass die Ethnomusikologie zu einer wichtigen Hilfswissenschaft für das OSW geworden ist und dass dadurch immer häufiger Inhalte und Verhaltensweisen aus authentischen Musik- und Tanztraditionen zu Lerninhalten gemacht werden. Während die Ethnomusikologie in der weitgehend kunstmusikalisch und eurozentrisch ausgerichteten deutschen Musikpädagogik bis zur Diskussion über die Interkulturelle Musikerziehung vor rund 15 Jahren keine wesentliche Rolle gespielt hat, finden sich ethnomusikalische Beiträge in der Theoriediskussion zum OSW bereits in den sechziger Jahren (!) des 20. Jahrhunderts, wie z.B. die Beiträge über das japanische Kinderlied von K. Otsuki und über das nordamerikanische Kinderlied von R. Johnston sowie die Beiträge von Felix Hoerburger und J.H. Kwabena Nketia.[52] Im Rahmen der italienischen OSW-Ausgabe Kinderlieder unter Mitarbeit eines Ethnomusikologen[53], Ethnomusikologen kommen in der Theoriediskussion zu Wort[54] oder ethnomusikologisches Wissen prägt Unterrichtsmaterial und Unterrichtsthemen[55]. Eindrucksvoll ist auch die Tatsache, dass mit authentischer Volksmusik auch die Kultur von Randgruppen oder unterdrückten Minderheiten wiederentdeckt wird, wie z.B. die Musik der Navajos in den USA[56].

Einen besonders starken Impuls bekam die Beschäftigung mit Material aus authentischen Traditionen durch das Symposion „Das Eigene – das Fremde – das Gemeinsame. Musik und Tanzerziehung als Beitrag zu einer interkulturellen Pädagogik“ 1995. Ein überzeugendes Beispiel für pädagogische Interkulturalität, die dann entsteht, wenn didaktisches Material aus dem OSW mit authentischer Volksmusik in Verbindung gebracht wird, präsentierte U. Jungmair in ihrem Atelier „Klanggesten in verschiedenen Kulturen“[57]. Sie realisierte mit den Teilnehmern zunächst einen Ostinato für Körperperkussion aus der ‚Rhythmisch-melodischen Übung’[58]. Dann stellte sie die Verbindung zu traditionellen Formen der Körperperkussion her, zum ‚Paschen’ im Salzburger Land, zum Klatschen und Stampfen im andalusischen Flamenco und zum afroamerikanischen ‚Patting Juba’ in den USA. In ihrem pädagogischen Kommentar betonte sie vor allem die Bedeutung der Schriftlosigkeit für das Realisieren der Körperperkussion, musikanthropologisch ein Basisverhalten, das Orff und Keetman mit ihrem Schulwerk reaktiviert und dadurch die Möglichkeit geschaffen haben, auf einer sinnlich-primären Ebene Beziehungen zur Körperperkussion in anderen Kulturen herzustellen. Erst der nächste Schritt bestand dann darin, sich mit der Bedeutungszuweisung bei der Körperperkussion in der salzburger, andalusischen und afroamerikanischen Praxis zu befassen, und sich beispielsweise mit den unterschiedlichen Körperkonzepten in diesen drei Kulturen auseinanderzusetzen.

Ein besonders zukunftsträchtiger Aspekt dieser Entwicklung der Schulwerkkonzeption ist das zunehmende Nachdenken über kulturelle Identität und kulturellen Wandel. „Kultur lebt von den Unterschieden“ hatte H. Regner Anfang der neunziger Jahre betont und Nivellierung als große Gefahr beschrieben. Er formulierte deshalb als Ziel der interkulturellen Arbeit des Orff-Instituts das Bestreben, „die Eigenständigkeit der Entwicklungen in anderen Kulturen zu stärken“[59]. Das Nachdenken über Unterschiede ist ein wertvoller Aspekt beim Wandel von der internationalen Verbreitung des OSWs zur interkulturellen Rezeption. Letztere stellt die heute lebenswichtigen Fragen zur eigenen kulturellen Identität und zur Bedeutung des Fremden im Prozess der Identitätsfindung. So führte in Japan die Diskussion von den Fragen, wie das OSW der japanischen Kultur angepasst werden könnte, zur Auseinandersetzung mit widerständigen Gegebenheiten der eigenen Kultur, wie der Andersartigkeit von Sprache und Gesang, der fehlenden Raumkapazität für Bewegung und Tanz in Schulräumen bis zu der Entscheidung, dem Orff-Instrumentarium Instrumente der japanischen Kultur hinzuzufügen.[60]

 

2.2 Die Eröffnung der interkulturellen Perspektive durch das Orff-Institut in Salzburg

Einer der interessantesten Aspekte der internationalen Verbreitung des OSWs besteht darin, „dass die Idee des OSWs jeweils von einer einzigen Person in ihr eigenes Land gebracht wurde“ und dass der „Funke, der in einem begeisterungsfähigen Pädagogen entfacht wurde, …Auswirkungen auf die Musikerziehung eines ganzen Landes“[61] hatte. Der Ausgangspunkt dieser pädagogisch höchst wirksamen Emotionalität liegt ohne Zweifel in besonderen personalen Qualitäten des Lehrkörpers, die das bereits von Orff und Keetman berichtete leidenschaftliche Engagement für die Sache am Orff-Institut weitergegeben haben. Die Erfahrung der Absolventen, am Orff-Institut dem Elementaren und Grundlegenden der expressiven Medien Musik und Tanz auf der Spur zu sein, lässt sich auf drei konkrete Aspekte zurückführen. Da ist erstens, quasi in der Vorgeschichte des Schulwerks, Orffs Anknüpfen am körperlich-expressiven Potential des Individuums (M. Wigman) und an den weltweit vorgegebenen elementaren Instrumenten (C. Sachs). Da ist zweitens das OSW als musik- und tanzpädagogische Konzeption, die dieses Elementare für Kinder und Erwachsene in eine Handwerkslehre einbringt, die sich auf das Schöpferische im Menschen gründet. Und da ist drittens der kühne Versuch eines Instituts in Salzburg, dieses Potential und diese Handwerkslehre weltweit bekannt zu machen, wobei betont werden muss, dass zunächst, in den 1950er Jahren, Menschen aus verschiedenen Ländern und Kulturen nach Salzburg kommen, von der Faszination des Elementaren angezogen, um sich in die Konzeption des OSWs einführen zulassen. Seit den sechziger Jahren begeben sich auch die Dozenten hinaus, gerufen von Absolventen, um die weltweit arbeitenden OSW-Lehrer in ihren Bemühungen zu unterstützen, zahlreiche Kurse zu halten und Projekte zu initiieren.[62]

Diese interkulturelle pädagogische Arbeit ist in der Filmdokumentation „Mit Xylophon und Fantasie“[63] festgehalten, die Hermann Regner verfasst und Werner Lütje produziert hat. Es existieren Filme über Argentinien, England, Griechenland, Indonesien, Japan, Kanada, Korea, Mexico, Spanien, Thailand und die USA. Sie alle zeigen, wie in der Ausbildung am Orff-Institut die Vermittlung der pädagogischen Grundlagen bereits in den siebziger Jahren unter Berücksichtigung der interkulturellen Perspektive erfolgt, da ausländische Studierende nicht nur eigenes kulturelles Material mitbringen sondern auch anders agieren. Dass hier wirklich mit großer Sensibilität unterrichtet und auf fremde kulturelle Identität geachtet wurde, belegt das folgende Fallbeispiel aus dem Improvisationsunterricht von H. Regner, das eine aus Sumatra stammende ehemalige Studierende überliefert hat:

„Hermann Regner sagte: ‚Wichtig ist, das beim Musizieren das eigene Wesen des Menschen zu schwingen beginnt, dass seine Seele sich bewegt.’ Bei einer seiner Klavierimprovisationsstunden ist bei mir etwas ausgelöst worden: wir sollten eine pentatonische Melodie improvisieren. Jedem meiner Kollegen gelang es, die Melodien mit geraden Taktarten zu akzeptieren – nur mir nicht. Ich wanderte in den Melodien ohne regelmäßige Taktarten, ohne Struktur, in freier Improvisation … endlos. Das ‚innere Ohr’ ließ Erinnerungen wieder erwachen … Ich war böse auf mich selbst, aber Hermann Regner erklärte mit Ruhe und sanfter Stimme: ‚Was Du innerlich hast, solltest Du nicht ändern. Deine indonesische Kultur hast Du unbewusst in dir und in der Improvisation ist das ‚hörbar’ geworden. In der indonesischen Musik gibt es die gerade Taktart nicht wie in der europäischen Musik, Du solltest diesen Reichtum behalten und zusätzlich das Studium der europäischen Musik praktizieren.’

Der Einfluss dieser Stunde war groß für mich.“[64]

Auf die Frage „Hat das Studium am Orff-Institut auch das Verhältnis zu Deiner eignen Kultur in irgendeiner Weise verändert?“ antwortet Sofia López-Ibor sicher im Sinne vieler anderer Absolventen: „Ja! Ich sehe jetzt viel klarer die Wichtigkeit, unsere traditionelle Volkskultur zu pflegen und weiterzugeben.“[65] Ebenso wichtig wie die Klärung der eigenen kulturellen Identität ist die Chance, in dieser „Oasis in the Desert“[66], wie Doug Goodkin das Orff-Institut genannt hat, zu lernen, über die Verschiedenheit von Kulturen und über die Akkulturation, den Anpassungsprozess bei der Begegnung zweier Kulturen nachzudenken, wie das Wakako Nagaoka[67] überzeugend getan hat.

Wer sich überzeugen will, wie tief und geradezu radikal das Nachdenken über die notwendige Veränderung der eigenen Kultur durch das Medium des OSWs ausfallen kann, der lese den faszinierenden, mit seinem Titel „Trennung einigt, indem die Zusammentreffenden sich trennen“ an die Diktion des I Ging anknüpfenden, Aufsatz von Naixiong Liao in dem von H. Regner betreuten Band „Begegnungen“[68]. Bei Liao zeigt sich, dass der Kulturbegriff nicht ohne die politische Dimension gedacht werden sollte und dass natürlich eine pädagogische Konzeption, durch die kreatives Denken und Handeln gefördert wird, in Konflikt mit starren, einseitig autoritätsgeleiteten gesellschaftlichen Strukturen kommen kann. Der im gleichen Band veröffentlichte Aufsatz „Kurze Geschichte des Orff-Schulwerks in der Tschechoslowakei“[69] berichtet darüber, wie in einem Land des Sowjetimperialismus die OSW-Konzeption mit ihrer Forderung nach freier Entfaltung der Kräfte sogar eine symbolische Bedeutung für den Freiheitsgedanken bekommen konnte.

Auf eindrucksvolle Weise hat D. Goodkin, beflügelt durch seine multikulturelle Schülerschaft in San Francisco und durch zahlreiche Reisen, über eine weltweite kulturelle Perspektive nachgedacht. Die Grundlage seines geistigen Konzepts bildet die Forderung des berühmten Mythenforschers Joseph Campbell: „What we need now is a mythology of the planet.“[70]  Campbell hat in vielen Büchern gezeigt, dass die Kulturen ihr Weltbild und Menschenbild aufgrund ihrer Mythologie entwickeln, dass dieses aber nicht als kognitives Konstrukt sondern symbolisch als Kunst, als Dichtung, Musik, Tanz, Drama in Erscheinung tritt[71]. Und er glaubt, dass die Menschheit im Zeitalter des Verblassens der großen kulturspezifischen religiösen Mythen eine neue Mythologie ihres Planeten hervorbringen müsse. Goodkin entwirft deshalb ein multikulturelles Curriculum, in dessen Mitte Festival und celebration stehen, ein künstlerisch gestaltetes rituelles Geschehen, in das Elemente aus verschiedenen Religionen einbezogen werden[72] und das dadurch die Chance bietet, die Frage nach einer neuen globalen Spiritualität und Ethik voranzubringen. Damit ist angedeutet, dass eine interkulturelle Dimension ohne Religion oder Spiritualität dem Begriff der ‚Kultur’ nicht gerecht wird und in der verkürzten Perspektive des Ästhetischen hängen bleibt. Dass selbst bei einer breiten Realisierung von Goodkins Entwurf eines multikulturellen Curriculums vordergründiger pädagogischer Optimismus unangebracht wäre, hat A. Kertz-Welzel an empirischen Untersuchungen zum multikulturellen Musikunterricht und an Fallbeispielen aus den USA nach dem 11. September 2001 gezeigt.[73]

Auch Hermann Regner bezieht sich auf die Musikmythen verschiedener Kulturen, wenn er sagt: „In anderen Kulturen wissen Menschen, dass Klang sich im Raum als bewegte Kraft, als Schwingung, ausbreitet, dass Klang tönende Energie ist, und dass der Mensch als körperlich-seelisch-geistiges Wesen diese Kraft zum Leben braucht wie Luft, Wasser,  Sonne und Erde“[74]. Und er bezieht sich auf die enge Beziehung zwischen Musik und Stille[75], den Kern der ältesten spirituellen Lehren der Menschheit über die Musik. R. Nykrins Antworten auf seine eigene Frage „Findet die Musikpädagogik das ‚Elementare’ wieder?“[76] lassen sich dahingehend ergänzen: Sie findet ‚das Elementare’ nur dann wieder, wenn sie sich aus der Enge didaktischer Theorie und ästhetischen Experimentierens befreit und sich mit Musik, Tanz und Spiel auf anthropologisch begründete Bedürfnisse des Menschen einlässt. Sie muss realisieren, dass mit Kultur ursprünglich die religiöse rituelle Ordnung menschlichen Lebens gemeint ist. Ihr dient das Schöpferische, das am Anfang des I Ging steht.

Literaturhinweise

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Dies.: Nicht Ethnie, nicht Bildung, sondern Bedeutungszuweisung. Plädoyer für einen bedeutungsorientierten Kulturbegriff. In: Schläbitz (Hg.) 2007, S. 31-51

Baumann, Max Peter: Das Eigene und das Fremde. Anmerkungen zum intrakulturellen und interkulturellen Aspekt der Ethnomusikologie. In: Noll, Günther/Bröcker, Marianne (Hg.): Festschrift für Ernst Klusen zum 75. Geb.  Bonn 1984, S. 47-59

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Kertz-Welzel, Alexandra: Kann multikultureller Musikunterricht die Gesellschaft verändern? In: Schläbitz 2007, S. 69-89

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Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze

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Liao, Naixiong: Trennung einigt, indem die Zusammentreffenden sich trennen. In: Orff-Schulwerk Forum 1990, S. 49-58

Magel, Eva-Maria: Studien zur internationalen Rezeption des Orff-Schulwerks. Masch. Magisterarbeit LMU München, Institut für Musikpädagogik 2007

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Merkt, Irmgard: Interkulturelle Musikerziehung. In: Musik und Unterricht H. 22, 1993, S. 4-7

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Nagaoka, Wakako: Im „Dazwischen“ von Kulturen. In: Orff-Schulwerk Informationen 69, Winter 2002/03, S. 17-21

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Oliveira Pinto, Tiago de: Improvisation. In: Bruhn, Herbert/Rösing, Helmut (Hg.): Musikwissenschaft. Reinbek 1998, S. 238-252

Orff, Carl: Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick. In: Orff-Institut Jahrbuch 1963, S. 13-20

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Orff-Schulwerk Forum Salzburg (Hg.): Begegnungen. Berichte über die Aufnahme und Entwicklung von Anregungen des Orff-Schulwerks. Schriftleitung Hermann Regner. Salzburg 1990

Pos, Vladimír: Kurze Geschichte des Orff-Schulwerks in der Tschechoslowakei. In: Orff-Schulwerk-Forum 1990, S. 158-164

Quadros, André de (Ed.): Many Seeds, Different Flowers. Nedlands/Australia 2000

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Ders.: Musik für Kinder – Music for Children – Musique pour enfants. Anmerkungen zur Rezeption und Adaption des Orff-Schulwerks in anderen Ländern. In: Musik und Bildung 1984, H. 12, S. 784-791

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Ders.: Ein Schulungswerk geht um die Welt. In: Neue Musikzeitung 1991, H. 2, S. 26 f.

Ders.: Mit Briefen fängt es an … Korrespondenz über das Orff-Schulwerk – oder: Interkulturelle Arbeit im Orff-Institut. In: Orff-Schulwerk Informationen 52, Winter 1993/94, S. 11-14

 

Ribke, Juliane: Elementare Musikpädagogik. Regensburg 1995

Dies.: In Verbindung sein – Fokus und Vernetzung Elementarer Musikpädagogik. In: Ribke, Juliane/ Dartsch, Michael (Hg.): Gestaltungsprozesse erfahren, lernen, lehren. Regensburg 2004

Rösch, Thomas: Curt Sachs und Carl Orff – Einflüsse der Wissenschaft auf die Musik. Vortragsmanuskript 2006

Rösing, Helmut: Sonderfall Abendland. In: Bruhn, Herbert/Rösing, Helmut (Hg.): Musikpsychologie. Reinbek 1998, S. 74-86

Rubin, William (Hg.): Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1996 (3. Aufl.)

Schläbitz, Norbert (Hg.): Interkulturalität als Gegenstand der Musikpädagogik. Essen 2007 (Musikpädagogische Forschung Bd. 28)

Schneider, Norbert Jürgen: Carl Orff und die repetitive Musik nach 1960. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1. München 1988, S. 354-374

Vallejo, Polo/López-Ibos, Sofia: Ähnlichkeiten und Unterschiede in der Arbeit von Musikethnologen und Musik- und Tanzpädagogen. In: Haselbach/rüner/Salmon 2007, S. 211-222

Varelas, Dimitris: Orff-Schulwerk Applications in Greek Settings. PhD Thesis University of Reading, School of Education 2002

Widmer, Manuela: Wanderer zwischen den Kulturen. In: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst 1995, S. 69-75

Ders.: Kurserfahrungen in China. In: Orff-Schulwerk-Informationen 69, Winter 2002/03, S. 22-27

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[1] Zum sog. ‚Primitivismus’ in der Bildenden Kunst der Moderne und seinen Bezügen zu exotischer Kunst vgl. ausführlich Rubin 1996

[2] Kossolapow 1975, S. 60 ff.

[3] Vgl. Kugler 2000, S. 159 ff.

[4] Kossolapow 1975, S. 62

[5] Vgl. dazu Regner 1975, 1984, 1991, Orff-Schulwerk Forum Salzburg 1990 und zusammenfassend Magel 2007

[6] Wie z.B. in den Orff-Schulwerk-Informationen oder in den Bänden Orff-Schulwerk Forum 1990 und Quadros 2000.

[7] Vgl. z.B. Magel 2007, S. 41 ff.

[8] Zur teminologischen Klärung im vorliegenden Aufsatz:

Interkulturell: Zwischen Kulturen. Ein vergleichendes Denken, das von verschiedenen Kulturen ausgeht, Verschiedenheiten feststellt und Nivellierungen vermeidet bzw. vermeiden sollte. Ein interkulturelles pädagogisches Vorgehen ist eigentlich eine schwierige und differenzierte Angelegenheit, da ja originale Bedeutungszuschreibungen in unterschiedlichen Kulturen erkannt und beachtet werden müssen. Das setzt gründliche kulturwissenschaftliche Kenntnisse voraus, wie sie z.B. der Bericht von Vallejo/López-Ibor 2007 zeigt.

Intrakulturell: Innerhalb einer Kultur. Betrachtungsweise, die ein kulturelles Phänomen mit Begriffen erklärt, die in der betreffenden Kultur verwendet werden. Man spricht von ‚intrakultureller Betrachtungsweise’, wie sie G. Kubik und J. M. Chernoff für die schwarzafrikanische Musikarten fordern (zur Differenzierung der Begriffe ‚interkulturell’ und ‚intrakulturell’ vgl. Baumann 1984).

Multikulturell: Aus mehreren Kulturen herstammend. Wird meist in der Formulierung ‚Multikulturelles Curriculum’ oder ‚Multikulturelle Pädagogik’ verwendet und meint einen Ansatz, der kulturelle patterns aus verschiedenen Kulturen zusammenführt. In pädagogischen Konzepten macht der Begriff ‚multikulturell’ mehr Sinn als ‚interkulturell’, da er pragmatisch von realen Mischformen in städtischen Ballungszentren ausgehen und daraus pädagogische Postulate entwickeln kann.

Transkulturell: Über verschiedene Kulturen hinweg. Transkulturell sind nach W. Welsch Phänomene, die sich über kulturelle Grenzen hinweg ausbreiten oder diese kulturellen Grenzen aufheben, wie z.B. das Fernsehen oder der Gebrauch westlicher Popmusik.

[9] Vgl. dazu das zum Zeitpunkt des Erscheinens kaum beachtete bikulturelle Konzept von Irmgard Merkt „Deutsch-türkische Musikpädagogik in der Bundesrepublik“, Berlin 1983 und ihren bahnbrechenden Aufsatz „Interkulturelle Musikerziehung. In: Musik und Unterricht 4 (1993), H. 22, S. 4-7

[10] Vgl. den Aufsatz „Das Orff-Instrumentarium: Einfach exotisch! Zur Entstehungsgeschichte des Instrumentariums zum Orff-Schulwerk“, Merkt 1998.

[11] Walter, Arnold: Introduction, zit. nach Regner 1984, S. 785 f.

[12] Karner 1993/94, S. 27

[13] Ebd. S. 27

[14] Orff 1963, S. 18

[15] Da Orff sich mit jeder neuen Schulwerkausgabe gründlich befasste, wurde ihm klar, dass Autorinnen und Autoren der jüngeren Generationen eigene Wege mit ihrem tradierten Material gehen müssen. Beispielhaft ist seine von Regner berichtete tolerante Reaktion auf die ziemlich eigenständige tschechisch-slowakische Ausgabe (Regner 1984, S. 788).

[16] Regner 1984, S. 787

[17] Vgl. Kugler 2000, S.  169-178, Kugler 2003, S. 110 f. und zu C. Sachs außerdem Rösch 2007.

[18] Vgl. Orff 1976, S. 8 f.

[19] Vgl. Titel und Inhalt von Clausen 2003

[20] Vgl. ausführlich U. Jungmairs Studie über das Elementare (Jungmair 2003).

[21] Jungmair 2003, S. 134 f.

[22] Ebd. S. 136

[23] Da sich Juliane Ribke bei ihrer Definition des Elementaren (Ribke 1995, S. 35) ebenfalls auf Jungmair beruft, ist kritisch anzumerken, dass Ribke Orffs Begriff ohne die historische und musikanthropologische Substanz rezipiert. Sie nimmt in dem entscheidenden Kapitel „Rückblick“ ihrer Studie (ebd. S. 22) zwar Bezug auf Jöde und Kestenberg, erwähnt aber Orff mit keinem Wort, obwohl Orff zu dieser Zeit in Kontakt zu Jöde und Kestenberg stand. Ribkes Darstellung ist dahingehend zu korrigieren, dass der Begriff ‚elementar’ in der Formulierung ‚Elementare Musikübung’ Titel der ersten Publikation des OSWs ist und damit in seiner pädagogischen Bedeutung auf Orffs Autorschaft zurückgeht.

Im übrigen rückt Ribkes Ansatz sehr stark das Subjekt und das Ästhetikverständnis von W. Welsch und der Avantgarde im Sinne des berühmten „If you celebrate it, it’s art“ (John Cage) in den Vordergrund und distanziert sich sogar von „kulturellen Traditionen mit ihren Wert- und Unwert-Zuschreibungen“ (Dies.: In Verbindung sein. Fokus und Vernetzung Elementarer Musikpädagogik. Ribke 2004, S. 13-22, Zitate S. 14). Abgesehen davon, dass Menschen immer kulturbezogen und damit wertend handeln, kann man feststellen, dass Ribkes Konzept sich im Hinblick auf den Musikbegriff stark von dem Orffs unterscheidet und für eine durch Kulturanthropologie und Ethnomusikologie gestütze Interkulturalität keine Ansatzmöglichkeiten bietet.

[24] Unter ‚World Music’ werden hier analog zum Sprachgebrauch der Ethnomusikologie und der ‚Garland Encyclopedia of World Music’  ausschließlich die tradierten Musikkulturen verstanden und nicht inzwischen entstandene Mischformen von tradierter Musik und Rockmusik wie bei Dunbar-Hall (in: Quadros 2000, S. 59). Da der Begriff ‚World Music’ zu stark vereinheitlicht, bevorzugt die Ethnomusikologie inzwischen den Plural ‚Musics of the World’ im Sinne des von Baumann herausgegebenen Bandes (1992).

[25] Kaden 2004, S. 9, 20.

[26] Kugler 2003

[27] In seiner bekannten Definition verbürgt das die Formulierung „eine Musik, die man selbst tun muss, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist“ (Orff 1963, S. 16).

[28] Vgl. dazu Orff 1963, S. 16 sowie Kugler 2003.

[29] Vgl. Schneider 1988

[30] Vgl. Fischer, Cornelia: ???

[31] Leuchtmann, Horst: Carl Orff oder Der Ausstieg aus der Musik der Zeit. In: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1. München 1988, S. 337-353

[32] Sicherheitshalber weise ich darauf hin, dass damit keineswegs nur die Schlaginstrumente gemeint sind, sondern auch gezupfte und geschlagene Töne auf Saiteninstrumenten.

[33] Vgl. noch bei Mary Wigman

[34] Vgl. zu dieser faszinierenden Thematik u.a.: Zur Lippe Rudolf: Vom Leib zum Körper. Naturbeherrschung am Menschen in der Renaissance. Reinbek 1988. Fritsch, Ursula: Tanz, Bewegungskultur, Gesellschaft. Verluste und Chancen symbolisch-expressiven Bewegens. Frankfurt/M. 1988 sowie Stocks, Daniela: Die Disziplinierung von Musik und Tanz. Die Entwicklung von Musik und Tanz im Verhältnis zu Ordnungsprinzipien christlich-abendländischer Gesellschaft. Opladen 2000. Das Besondere und Auffällige der europäischen Tanzgeschichte bis ins 20. Jahrhundert liegt darin, dass sich disziplinierendes Kontrollieren und Zurückdrängen des Tanzes mit explosionsartigen Entladungen der Tanzbedürfnisse immer wieder abwechseln.

[35] Kugler 2000, S. 322 ff.

[36] Ein lebendiges, anschauliches Bild der mittelalterlichen Praxis gibt Margit Bachfischer: Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter. Battenberg1998.

[37] Vgl. Biesenbender 2005

[38] Vgl. hierzu ausführlich Kugler 2003.

[39] Das betrifft besonders das Verständnis der Improvisation in nicht-westlichen Musikarten, in denen hierzulande weitaus mehr spontane Veränderung vermutet wird, als tatsächlich vorhanden ist. Zum einen dominieren dort feste Patterns und Strukturen und zum andern wird die Improvisation durch den sozialen Kontext, also durch Erwartung und Reaktion der Zuhörer beeinflusst. Vgl. dazu ausführlich Oliveira Pinto 1998. Im Gegensatz dazu wird in der abendländischen Kunstmusik wesentlich weniger Improvisation vermutet, als tatsächlich vorhanden war, bevor die Musik von Händel, Bach, Mozart, Beethoven, Chopin u.a. als notiertes Werk fixiert wurde. Neben dem ausführlichen Artikel „Improvisation“ in MGG sei vor allem der Klassiker von Ernst Ferand, Die Improvisation in der Musik, Zürich 1938 (!) zur Lektüre empfohlen.

[40] Rösing 1993, Titel

[41] Oliveira Pinto 1998, S. 249. Oliveira Pinto bezieht sich hier zwar auf den Free Jazz und völlig freie Improvisationsformen, aber die Gefahr des improvisatorischen Autismus droht auch in der Musikpädagogik.

[42] Haselbach 1993, S. 31

[43] Barth 2000 und 2007

[44] Vgl. Barth 2007, S. 37 ff. Zweifel an der Schlüssigkeit des Konzepts von Schütz äußert auch Clausen 2003, S. 131 ff.

[45] Vgl. dazu ausführlich Orff-Schulwerk Forum 1990 und Quadros 2000

[46] Vgl. Widmer 1995 S. 69 ff.

[47] Widmer 1995, S. 70

[48] Vgl. Kugler (Hg.) 2002, S. 228 f. Georgiades arbeitete damals mit der ‚Elementaren Musikübung’, also der ersten Version des OSWs.

[49] Vgl. Mathéy 1990

[50] Varelas 2002, S. 81

[51] Flitner-Skoufos 1998, S. 50

[52] In: Orff-Institut Jahrbuch 1963 und Orff-Institut Jahrbuch III (1964-68)

[53] Piazza 1990, S. 97

[54] Wie z.B. Reily 1993/94, Vallejo/López-Ibor 2007

[55] Wie z.B. Hochschule für Musik und Darstellende Kunst 1995, S. 80 ff., Goodkin 1993/94, Quadros 2000 und viele andere.

[56] Vgl. in Quadros 2000 den Beitrag von McCullogh-Brabson.

[57] Jungmair 1995

[58] Orff/Keetman Bd. 1, 1950, S. ?

[59] Regner 1993/94, S. 13

[60] Vgl. Magel 2007, S. 72 ff.

[61] Magel 2007, S. 86

[62] Vgl. Regner 1984 und Orff-Schulwerk Forum 1990

[63] Diese Filmreihe ist auf Video überspielt: Orff-Zentrum München, Medienarchiv.

[64] Mei Lien, Maximilienne Lemye, in: Widmer 1995, S. 71 f.

[65] Adaptación total oder Vielfalt und Anpassung. Bicinium zwischen Sofia López-Ibor und Verena Maschat über Fragen der Redaktion. In: Orff-Schulwerk Informationen 69, Winter 2002/03, S. 39

[66] Goodkin 1998

[67] Nagaoka 2002/03

[68] Liao 1990

[69] Pos 1990

[70] Zit. nach Goodkin 1992/93, S. 18

[71] Selbstverständlich betrifft das nicht nur Campbell sondern auch andere bedeutende Mythenforscher, wie z.B. Karl Kerényi und Claude Lévi-Strauss, die beide die tiefe innere Verwandtschaft von Musik und Mythos betonen. Vgl. Karl Kerényi: Über Ursprung und Gründung in der Mythologie. In: C. G. Jung/K. Kerényi: Das göttliche Kind. Düsseldorf 2006, S. 14f. und Cl. Lévi-Strauss: Mythos und Musik. In: Ders.: Mythos und Bedeutung. Frankfurt/M. 1980, S. 57-67.

[72] Goodkin 1993/94, S. 18 f.

[73] Kertz-Welzel 2007. Dieser Aufsatz ist auch als dringend notwendige Medizin gegen euphorische Wunschvorstellungen in den Konzepten der neunziger Jahre zur Interkulturellen Musikerziehung in der deutschen Musikpädagogik zu empfehlen.

[74] Regner 1989, S. 131 f.

[75] Ebd. S. 114 f.

[76] Nykrin 1998, Titel

 

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Nachwort

Mein Aufsatz ist 2008 in einem Sammelband zum 80. Geburtstag von Prof. Dr. Hermann Regner als hauseigener Druck des Orff-Instituts erschienen:

Begegnungen mit Hermann Regner. Hommage zum 80. Geburtstag. Hg. von Regina Pauls unter Mitarbeit von Sonja Czuk, Thomas Hauschka und Rainer Kotzian. Abteilung für Musik- und Tanzpädagogik – Orff-Institut. Universität Mozarteum A- 5020 Salzburg, Frohnburgweg 55, S. 21-42 o.J. (2008)

Prof. Dr. Regina Pauls (Leipzig) hat mir freundlicherweise bestätigt, dass zu diesem Band von Seiten des Orff-Instituts kein Copyright-Anspruch besteht, weshalb die Copyrights bei den Verfassern verblieben sind.

Seit dem Beginn der Arbeit an meinem Internetlexikon www.orff-schulwerk.de/lexikon auf der Website der Orff-Schulwerkgesellschaft Deutschland e.V. habe ich mehrmals aus diesem Artikel zitiert, wenn es um den Aspekt der interkulturellen Bedeutung des Orff-Schulwerks ging. Mir wurde aber signalisiert, dass für viele Leser diese Festschrift nicht zugänglich bzw. bibliothekarisch nicht auffindbar ist, da sie nicht in einem Verlag erschienen ist und deshalb keine ISB-Nummer hat.

Ich habe meinen Aufsatz mit Absicht nicht überarbeitet. In seiner abgeschlossenen Form spiegelt er den Stand der Dinge im Jahr 2008. Zu einer weiterführenden terminologischen Klärung von Fachbegriffen und zur inhaltlichen Vertiefung sollte das wissenschaftliche Online-Lexikon auf der Website der Orff-Schulwerk-Gesellschaft Deutschland e.V. herangezogen werden. Folgende, im Text erscheinende Fachbegriff werden dort ausführlich erklärt:

> Ausdruckstanz

> Das Elementare

> Improvisation

> Körperperkussion

> Musikethnologie

> Notenschrift

> Orff-Instrumentarium

> Perkussion

> Primitive Musik

> Rhythmus- und Tanzbewegung

 

Ergänzende Literaturhinweise:

 

Kugler, Michael: Interkulturelle Aspekte des Orff-Schulwerks, in: Orff-Schulwerk Heute 93, Winter 2015, 52-59, auch in englischer Sprache: Intercultural Aspects of the Orff-Schulwerk, in: Haselbach, Barbara/Stewart, Carolee (Eds.), Orff-Schulwerk in Diverse Cultures. An Idea That Went Round the World. International Orff-Schulwerk Forum Salzburg 2021, Pentatonic Press (USA)

Rösch, Thomas: Curt Sachs und Carl Orff – Einflüsse der Wissenschaft auf die Musik, in: Kalcher, Anna Maria (Hg.): Orff im Wandel der Zeit. Kunst trifft Pädagogik. Wiesbaden 2022,84-104

Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010

 

Geretsried im November 2023

 

Michael Kugler