Musik für Kinder

„Musik für Kinder“ (MfK) ist der Titel der zweiten Publikationsreihe des > Orff-Schulwerks (OSW), die nach dem 2. Weltkrieg erschienen ist. Während das OSW > „Elementare Musikübung“ der Jahre 1932-35 auf dem Hintergrund der > Günther-Schule für Gymnastik und Tanz in München (Kugler 2002) konzipiert ist, entstand die MfK ab 1948 für eine Sendereihe im Bayerischen > Rundfunk und wurde 1950 bis 1954 in fünf Bänden im Schott-Verlag Mainz publiziert. Die Zielgruppe waren zunächst Kinder der Grundschule (Primarstufe) und der Hauptschule (Sekundastufe 1) im Alter von 6 bis 14 Jahren. Ergänzend erschienen die Titel > „Jugendmusik“ und > „Lieder für die Schule“ sowie das Heft > „Paralipomena“ mit einem Nachtrag kompositorischem Materials von Keetman und Orff (1977). Das Schulwerk MfK wurde auch auf > Schallplatten und CDs (> Musica Poetica) dokumentiert

Orff gliedert die Inhalte der 5 Bände nach tonalen Gesichtspunkten (Originaltitel der einzelnen Bände in Anführungszeichen):

Bd. 1 „Im Fünftonraum“ arbeitet ausschließlich mit Dur-Pentatonik auf C.

Bd.2 „Dur: Bordun-Stufen“ verwendet die hexatonische und heptatonische Skala sowie eine Stufenharmonik 1./2. Stufe, 1./6. Stufe.

Bd. 3 „Dur: Dominanten“ baut die Klangwelt auf C, F und G unter Einschluss von 4. und 5. Stufe auf.

Bd. 4 „Moll: Bordun-Stufen“ verwendet im Bordun-Teil die Modi Äolisch, Dorisch und Phrygisch und strukturiert eine Klangwelt auf verschiedenen Stufen dieser Skalen.

Bd. 5 „Moll: Dominanten“ bringen wie Bd. 4 eigentlich kein typisches Moll sondern arbeitet mit den Modi Äolisch, Dorisch und Phrygisch.

Obwohl Orff der > Didaktik grundsätzlich fernstand, schreitet die MfK von einfachen zu komplexen Strukturen fort. Das betrifft Rhythmus und Tonalität. Auf kompositorischer Suche hatte Orff am Anfang der 1920er Jahre mit einem Selbststudium der sog. > Alten Musik die Klangwelt von ca. 1200 bis zum Generalbasszeitalter erkundet. Diese Klangwelt von Orffs > Elementarer Musik ist also vor der Kadenzharmonik angesiedelt. So ist es zu verstehen, dass Orff Quint-Oktavklänge, modale Skalen, Stufenharmonik und paraphone (parallelklangliche) Bildungen verwendet.

Vokaler und instrumentaler Ausdrucksbereich sind im Hinblick auf die Kooperation Orff-Keetman differenziert zu sehen. Mit diesen beiden Bereichen war anlässlich der Schallplattenaufnahme der > „Musica Poetica. Orff-Schulwerk“ die Frage nach der Autorenschaft verbunden, die wegen der Tantiemenverteilung durch die GEMA entschieden werden musste. Man entschloss sich, die Vokalstücke Orff und die Instrumentalstücke Keetman zuzuordnen, was den Anteilen an der Zusammenarbeit einigermaßen entsprechen dürfte (Keller 1988, 376). Darüber hinaus hat Keetman wahrscheinlich auch die meisten Instrumentalsätze zu den Orff zugeordneten Vokalstücken geschrieben. Deshalb ist von einem über 50% hinausgehenden Beitrag Keetmans zum Schulwerk MfK auszugehen. Der Orff zuzuordnende vokale Ausdrucksbereich steht auf der Basis einer expressiven, szenischen Sprachästhetik (> Sprache) und bezieht sein Material weitgehend aus älteren poetischen Traditionen. Das betrifft die sog. „einfachen Formen“ (Orff-Institut 1969, 37-74) wie Spruch, Sprichwort, Rätsel, Märchen und kleinteilige Volkslyrik sowie Kunstlyrik, Volkslieder des 16./17./18. Jahrhunderts und Material aus der europäischen Folklore. In seinen Anmerkungen am Schluss der Bände gibt Orff Erklärungen zu Herkunft und Datierung seiner Quellen sowie zur Bindung an Brauchtum und Tanztradition. Der Keetman zuzuordnende instrumentale Ausdrucksbereich stützt sich formal auf Reihen- und Rondoformen (> Rondo).  Die Klangbildung beruht auf monoklanglichen (> Bordun) und repetitiven (> Ostinato) Strukturen. Die Klangästhetik ist vom perkussiven Klang der > Orff-Instrumente und dem strömenden, nicht-expressiven Klang der > Blockflöten geprägt. Das Instrumentarium wird mit perkussiven Saiteninstrumenten wie > Laute, > Gitarre und > Cembalo erweitert sowie mit Blas- und Streichinstrumenten der > Alten Musik, die noch nicht dem Ideal der expressiven Tongebung verpflichtet sind.

Das umfangreiche Kompendium der fünf Bände überfordert die gängige musikpädagogische Praxis in Schulen, denn es stellt eine Einführung in eine künstlerische Praxis dar (> Orff-Schulwerk. Begriff). Nach W. Keller (1988) muss deshalb mehr der Kunstwerk-Aspekt als der Schulwerk-Aspekt gesehen werden. Auch Wolfgang Roscher betont, von Carl Orff lerne „man am meisten aus seinen Werken für die Bühne“ und „Musik für Kinder“ bedeute deshalb „Einübung in die Kunst der mündigen Neugier des Versuchens und Lauschens“ (Roscher 1995, 6f.). Auf jeden Fall ist die „Musik für Kinder“ keine für Kinder zurechtgemachte simple Musik, einer der häufigen Vorwürfe in der deutschen Musikpädagogik. Sie ist Musik „auch für Kinder“ (Keller 1988, 379). Orff hat (nach Keller) mehrmals geäußert,  nur Bd. 1 und Teile der Bände 2 und 3 seien für Kinder gedacht, das übrige Material für Jugendliche und Erwachsene im Sinn der ursprünglichen Bezeichnung > „Elementare Musikübung“ aus den 1930er Jahren. Die Bände 1 bis 4 sind zwar als Fortschreiten vom Einfachen zum Komplexen angelegt, aber sie enthalten keine methodische Anleitung. Das liegt am Ursprungsprinzip der Improvisation (> Improvisation, > Klavier), dem Orff und Keetman von den ersten Versuchen in der > Günther-Schule an folgten. Deshalb müssen viele der ausformulierten Partituren als Vorlagen, > Modelle, Exempla für einen handwerklichen Prozess verstanden werden (Thomas 1977, 20ff., Jungmair 2003, 117ff.) und nicht als zu reproduzierende Werke. Orff hat deshalb in seinen Anmerkungen am Ende jedes Bandes darauf hingewiesen, dass alle notierten Beispiele „als Modelle für eigene Versuche zu verstehen“ (Orff, in: MfK 1, 162) sind. Sie sollen „improvisierend zu Ende geführt“ (Orff, in: MfK 1, 162) werden, zu Sprachbeispielen „sollen einfache Begleitungen … gefunden werden“ (Orff, in: MfK 3, 12; 4, 150), Texte sind „melodisch auszuarbeiten“ (Orff, in: MfK 4, 150). Häufig findet sich die Anregung, notierte Stücke weiter „auszubauen“ (Orffs Wortlaut), d.h. neu zu arrangieren. Dass dies in der Unterrichtspraxis möglich ist, hat eine Befragung von Unterrichtspraktikern/innen durch Rudolf Nykrin (Nykrin 1988) gezeigt.

Dennoch gibt es fragmentarische methodische Hinweise in Orffs frühen Aufsätzen (Kugler 2002, 169-192) und in den Anmerkungen am Schluss der Bände:

– Die musikalische Aktivität soll von Bewegung und > Körperperkussion ausgehen: „Sehr wichtig ist, dass wir nicht am Instrument beginnen…“ (Orff, in: Kugler 2002, 188). Der Weg zu den Instrumenten beginnt mit der perkussiven, tänzerischen und gestischen Aktivierung des Körpers. Für die rhythmische Bildung sind die Klanggesten unverzichtbar. Notierte Stücke sollen mit „Bewegungsgestaltung“ (MfK 1, 156), „Bewegungsspiel“ (MfK 2, 125), Tanz (MfK 3, 124, 128; 5, 138), oder Tanzimprovisation (MfK 4, 150) verbunden werden. Diese spärlichen Anmerkungen können methodische Modelle zur Bewegung nicht ersetzen. Der Vorwurf, dass Orff zugunsten seines sprachlichen Ansatzes den aus der Günther-Schule tradierten tänzerischen Ansatz vernachlässigt hat, besteht zu Recht.

– Die Schlaginstrumente sollen von ihrer spezifischen Klangqualität her erschlossen werden: „Viel Arbeit und Hingabe ist erforderlich, auf den primitiven Instrumenten vom Geräusch zum Klang zu kommen, einzutauchen in die Magie des Klanges, in die differenzierten Klangwerdungen und Erscheinungen“ (Orff, in: Kugler 2002, 188). Deshalb dürfen die Instrumente „nicht mit Robustheit behandelt werden, … denn die Erziehung zum Klangempfinden soll wesentlich bei unserer primitiven Musikübung sein“ (ebd. 190). Und in seinen Anmerkungen zu den 5 Bänden der MfK fordert er mehrmals, man solle „alles Schlagwerkspiel aus dem leisen Klang entwickeln“ (MfK 1, 156). Im Kommentar zum letzten Stück des 5. Bandes bezieht sich Orff hierauf und wiederholt seine „Mahnung aus dem Leisen – Pianissimo – zu beginnen“ (MfK 5, 152). Die Dimension > Klang ist wie die Dimension > Sprache als zentral anzusehen.

– Melodien sollen aus elementaren Vokaläußerungen hervorgehen. Sprechen, Rufen, Summen liefern das Rohmaterial für melodische Gestaltung. Dazu können Verse und Melodien aus authentischen Volksmusiktraditionen aufgegriffen werden.

– Vor allem im Anfangsstadium müssen die musikalischen Aktivitäten der > Notenschrift vorausgehen. Orff hat selbst nach dem Grundsatz „von der Improvisation zur Notation“ (Kugler 2000, 293f.) konsequent unterrichtet.

Die wichtigste Quelle zur Frage der > Methodik im OSW „Musik für Kinder“ ist Keetmans Buch „Elementaria“ (1970), das sie auf ausdrücklichen Wunsch Orffs (Mitteilung Keetman an Michael Kugler) verfasst hat. Bewusst hat sie im Untertitel die Begriffe Methode bzw. Methodik vermieden und formuliert: „Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk“ (Keetman 1970). Das Wort Umgang vermeidet die Vorstellung eines straff zielorientierten Unterrichts und hebt auf die Werkstattsituation ab. Das Buch besteht aus den Teilen „Rhythmisch-melodische Übung“ und „Elementare Bewegungserziehung“, die in der Praxis ständig miteinander verknüpft werden sollen. Keetman verkörpert die pädagogische Seite des OSWs und war „die Praktikerin des Schulwerks, ohne die, wie Orff immer wieder betonte, das Ganze nie zustande gekommen wäre“ (Keller 1985, 20). Ihre handschriftlichen Unterrichtspläne (OZM Archiv) zeigen „einen bis ins Detail vorbereiteten … logischen, aber dennoch flexiblen Aufbau des Stundenablaufs, der sowohl handwerkliche und spieltechnische Fertigkeiten als auch kreativitätsorientierte Lernprozesse animieren und fördern sollte“ (Ronnefeld 2002, 103). Auch bei ihr muss die Improvisation als Basis der pädagogischen Vermittlung gesehen werden. Aber im Gegensatz zu Orff gelang es Keetman, die Improvisation in ihren Kursen methodisch zu inszenieren (Gray 2005, Fischer 2009, 292f.). Dieses Vorgehen bildet das Fundament für die Konzeption des 1961 gegründeten Orff-Instituts in Salzburg (Widmer 2011). Es ist bezeichnend, dass Orff Ende der 1950er Jahre, als Keetman ihn bat, nicht mehr unterrichten zu müssen, entgegnete: „Niemand kann es wie du“ (Ronnefeld 2004, 39).

 

Zu den fremdsprachlichen Ausgaben vgl. das Stichwort > Interkulturelle Rezeption

 

Literaturhinweise:

 

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Gray, Esther: Glimpses at genius: Keetman the person, the composer, the improvisor, in: The Orff Echo Vol. 37, Nr. 3, Spring 2005, 9-17

Jungmair, Ulrike E.: Das Elementare. Zur Musik- und Bewegungserziehung im Sinne Carl Orffs. Mainz 2003 (2. Aufl.)

Keetman, Gunild. Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970

Keller, Wilhelm: Zeugenaussage über C. O. und sein Werk. Tutzing 1985

Keller, Wilhelm: Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk? in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1. München 1988, 375-389

Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Frankfurt/M. 2000

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924-1944. Mainz 2002

Nykrin, Rudolf: Verwenden Sie Stücke aus dem Orff-Schulwerk in Ihrer Unterrichtspraxis?, In: Orff-Schulwerk  Informationen 41, Juni 1988, 6-18

Nykrin, Rudolf: 50 Jahre „Musik für Kinder – Orff-Schulwerk“ – Gedanken zum aktuellen Status eines musikpädagogischen Klassikers, in: Orff-Schulwerk Informationen 64, Sommer 2000, 13-23

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976

Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg, Jahrbuch III (1964-1968). Mainz 1969

Ronnefeld, Minna: Gunild Keetman – Pädagogin und Komponistin, in: Kugler 2002, 95-108

Sitzman, Anne: Through technical mastery and composition, Keetman re-imaged the recorder, in: The Orff Echo Vol. 37, Nr. 3, Spring 2005, 18-21

Roscher, Wolfgang: Carl Orff heute, in: Musik und Bildung 27 (995), H. 3, 4-8

Thomas, Werner: Einleitung, in: Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970, 10-12

Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

Thomas, Werner: „Gemeinsambrüderliches …“ Erinnerungen an Carl Orff aus drei Jahrzehnten, in: Ders.: Das Rad der Fortuna. Ausgewählte Aufsätze zu Werk und Wirkung Carl Orffs. Mainz 1990, 19-32

Widmer, Manuela: Die Pädagogik des Orff-Instituts. Entwicklung und Bedeutung einer einzigartigen kunstpädagogischen Ausbildung. Mainz 2011

 

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Bearbeitet am 05.04.2023