Modell

Der Begriff Modell hat grundlegende Bedeutung für die Realisierung des notenschriftlich fixierten Materials des OSWs. Das erste OSW > „Elementare Musikübung“ (1932-35) geht aus improvisatorischen Akten hervor. Die Intention der publizierten Inhalte besteht darin, wieder zur > Improvisation zu führen. Auch bei quasi komponierten Stücken wie die von G. Keetman und C. Orff im OSW > „Musik für Kinder“ (1950-54) hat man sich als Basis immer improvisatorisches Handeln vorzustellen. Orff wusste selbstverständlich, „dass die Publikation und alle damit verbundene Festlegung dem Charakter der Improvisation nicht entsprach“ (Orff 1976, 115). Er hat deshalb schon für das Schulwerk „Elementare Musikübung“ betont, es handle sich um „eine Sammlung von Modellen, die auf umgekehrtem Wege dahin führen wollen, woher sie gekommen sind, zur Improvisation“ (Orff 1932/33, in: Kugler 2002, 192). Auch D. Günther (1933, Kugler 2002, 158), Leiterin der > Günther-Schule, die als Werkstatt des Schulwerks zu sehen ist, verwendet das Wort Modelle für das in kleinen Bausteinen aufgezeichnete Material der > „Rhythmisch-melodischen Übung“ (Orff 1933). Orff hat Beispiele, wie diese kleinen Modelle zur Gestaltung von Musikstücken weitergeführt werden können, in den Heften seiner > „Klavier-Übung“ und seiner > „Geigen-Übung“ gegeben.

Im 1. Band des Schulwerks „Musik für Kinder“ greift Orff das Baukastenprinzip der „Rhythmisch-melodischen Übung“ auf (Orff/Keetman 1950, Bd.1, 68-110) und betont im Kommentar zu den „Rhythmen über ostinater Begleitung“, diese seien „wiederum nur als Modelle für eigene Versuche zu verstehen“ (Orff/Keetman 1950, Bd. 1, 162). Aufforderungen, gegebene Rhythmen, Sprechstücke, Melodien und musikalische Sätze zu variieren, umzugestalten und durch Neues zu erweitern, ziehen sich durch die Kommentare zu allen fünf Bänden der „Musik für Kinder“. Der Terminus Modell kann nur auf dem Hintergrund von Orffs Improvisationsbegriff richtig interpretiert werden. Durch sein Studium der > Alten Musik und nicht-westlicher Musikarten (Kugler 2008) verstand Orff unter Improvisation ein Stegreifverfahren nach Patterns, die durch die jeweilige Musikkultur bereitgestellt werden. Für die Improvisation gibt es also Vorlagen wie Skalen, melodische und rhythmische Formeln, metrische Ordnungen, formale Schemata u.a. Der Improvisierende lernt dieses Material im Rahmen des Enkulturationsprozesses durch sozial vermittelte Hörkonventionen, Bewegungstraditionen (Tanz), Exploration, Selbststudium und durch Unterricht kennen und spielt damit. Es handelt sich nicht um freie Improvisation im Sinne der Musik-Avantgarde und dementsprechend nicht im Sinne eines individualisierten Improvisierens bzw. einer Kollektivimprovisation im Sinne der Improvisationsdidaktik der 1970er Jahre, wie z.B. bei G. Meyer-Denkmann (1970) bzw. L. Friedemann (1969). Über die Vermittlung von Modellen soll nach Orffs Vorstellung über ausgiebige Erfahrungen mit Sprechen, Singen, Körperperkussion und Instrumentalspiel der Weg zur Notenschrift angebahnt werden, wie ein Bericht über das > Studio Suse Böhm in München (Böhm 1975) dokumentiert. Im Übrigen enthält das OSW „Musik für Kinder“ zahlreiche Beispiele für freies Gestalten von Sprache, für die Orff nur den Text vorgibt.

Orff-Forscher W. Thomas hat zweimal zum Terminus Modell Stellung genommen. Zunächst stellt er in einer bildungstheoretischen Studie das ganze „Orff-Schulwerk als pädagogisches Modell“ (Thomas 1964) dar und verwendet als Schlüsselbegriffe „Reduktion und Isolation“, „Elementarisierung“, „Strukturierung“ und „imaginative Weiterbildung“. Dass diese terminologischen Fragen nach wie vor diskutiert werden, zeigt der Sammelband „Elementar“ von Kalcher/Oebelsberger (2019). Thomas betrachtet im Rahmen seiner Textbeilage zur Schallplattenproduktion > „Musica Poetica“ (Buchpublikation: Thomas 1977) die improvisatorische Arbeitsweise der > Günther-Schule und nennt diesen Prozess „Vom Experiment zum Modell“ (Thomas 1977, 15-43). Von einem experimentellen Arbeiten fertigen die Protagonisten Orff und Keetman protokollartige Nachschriften an, die Ergebnisse festhalten wollen und als Grundlage für weiterführendes Gestalten dienen können:

„Das protokollierte Experiment wird zum Modell. (…) Modell bezeichnet sowohl einen Vorentwurf für ein erst zu Schaffendes, also ein Musterbild, als auch die Reduktion eines schon Geschaffenen, also ein Abbild. Es strukturiert Grundlinien in anschaulicher und fasslicher Form. Am Modell kann daher ein Sachverhalt nach seinen Maßen, Strukturen und Proportionen studiert werden. Das Modell ist instruktiv und damit im weitesten Sinne des Wortes – pädagogisch. Es stößt die imaginative Phantasie an“ (Thomas 1977, 20). Wenn dieses Wesen der Aufzeichnung als Modell nicht klar erkannt wird, dann kommt es zu dem Missverständis, die notierten Partituren als verbindliche Vorlage zur Reproduktion zu sehen.

Copyright 2022 by Michael Kugler

Literaturhinweise:

Böhm, Suse: Spiele mit dem Orff-Schulwerk. Elementare Musik und Bewegung für Kinder. Im Studio Suse Böhm – München photographiert von Peter Keetman. Stuttgart 1975

Friedemann, Lilli: Kollektivimprovisation als Studium und Gestaltung Neuer Musik. Wien 1969

Günther, Dorothee: Die Einheit von Musik und Bewegung (1933), in: Kugler 2002, 151-162

Kalcher, Anna Maria/Oebelsberger, Monika (Hg.): Elementar. Künstlerisch-pädagogische Sichtweisen. Wien 2019

Keller, Wilhelm: Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1. München 1988, 375-389

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002

Kugler, Michael: Interkulturelle Aspekte des Orff-Schulwerks, in: Orff-Schulwerk Heute 93, Winter 2015, 52-59 (dt.-engl.)

Meyer-Denkmann, Gertrud: Kangexperimente und Gestaltungsversuche im Kindesalter. Wien 1970

Orff, Carl: Elementare Musikübung, Improvisation und Laienschulung (1932/33), in: Kugler, 2002, 183-192

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Orff-Schulwerk. Musik für Kinder. 5 Bde., Mainz 1950-54

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976

Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

Thomas, Werner: Das Orff-Schulwerk als pädagogisches Modell (1964), in: Ders.: Das Rad der Fortuna. Ausgewählte Aufsätze zu Werk und Wirkung Carl Orffs. Mainz 1990, 261-274

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