Das Interesse an nichtwestlichen Kulturen ist ein wesentliches Merkmal der Moderne. In der Bildenden Kunst prägt die Entdeckung der sog. Primitiven Kunst den Fauvismus und den Kubismus. Die Kunstwissenschaft spricht von Primitivismus (Rubin 1996). Westafrikanische Masken bilden die Inspirationsquelle für Pablo Picassos berühmtes Gemälde „Die Mädchen von Avignon“ (1907). Auch für die Künstlervereinigung des Blauen Reiter in München, also im unmittelbaren kulturellen Umfeld Orffs spielt die Primitive Kunst eine wichtige Rolle. Für Orffs Vorstellung von einer > Primitive(n) Musik, einer Musik nichtwestlicher Kulturen, wirkt sich entscheidend seine Begegnung mit dem Musikethnologen Curt Sachs aus. Als Orff 1923 auf der Suche für ein geeignetes Instrumentarium für die zu gründende > Günther-Schule ist, führt ihn Sachs durch die umfangreiche staatliche Instrumentensammlung in Berlin. Orff berichtet von dem großen Eindruck, den die Vielfalt der Perkussionsinstrumente in den Musikkulturen der Welt und erinnert sich, dass ihn Sachs mit dem Satz verabschiedet hatte: „Am Anfang war die Trommel“ (Orff 1976, 15, Orff 2020, 130).
In der > Rhythmus- und Tanzbewegung bekommt die Trommel im expressionistisch geprägten > Ausdruckstanz Rudolf von Labans und Mary Wigmans eine besondere Bedeutung. Dabei findet eine bedeutsame Wende vom kunstmusikalisch geprägten Konzept der Rhythmik bei Émile Jaques-Dalcroze (> Methode Jaques-Dalcroze) zum tänzerisch und perkussiv geprägten Konzept der Laban-Schule statt (Kugler 2014). Man kann von einer symbolischen Szene sprechen, als Wigman nach ihrer Trennung von Dalcroze im Sommer 1913 bei Laban auf dem Monte Veritá ankommt und den Klang einer Trommel hört (Müller 1986, 39). Laban unterrichtete mit einer Rahmentrommel (Foto: Müller 1986, 42) und anderen Perkussionsinstrumenten, um den tänzerischen Körperimpulsen den ersten Rang zu geben und diese weder von Kunstmusik noch von irgendeiner Narration abhängig zu machen. Die Verbindung von Schlaginstrumenten und Improvisation diente dem schöpferischen Prinzip des > Elementaren (Kugler 2000, 171), das den Expressionismus weitgehend geprägt hat. Wigman, auf die sich Orff bei seiner Beschreibung des Elementaren und der > Elementaren Musik ausdrücklich bezieht (Orff 1976, 9), besaß privat mehrere Perkussionsinstrumente, darunter zwei Rahmentrommeln und eine Standtrommel (Foto: Bach 1933). Das Perkussionsorchester der Mary-Wigman-Schule in Dresden hatte zahlreiche Rahmentrommeln verschiedener Größe, die mit Schlägeln gespielt wurden sowie ein Schlagzeug mit zwei Tomtoms (Foto: Müller 1986, 128f.). Das Spiel der großen Trommel im „Hexentanz“ II und das Spiel mehrerer Trommeln im Zyklus „Die Feier“ ist in Notenschrift dokumentiert (Bach 1933, 29, 58).
Aus Orffs Kindheit existiert ein Foto des Vierjährigen mit einer Rührtrommel (Orff 1975, S. 25), wohl ein Geschenk der Familie, denn Orffs Vater war Offizier der bayerischen Armee. Die große Faszination für die Perkussion ging von der Begegnung mit dem Musikanthropologen Curt Sachs 1923 in Berlin aus und betrifft nicht nur das Schulwerk sondern Orffs gesamtes künstlerisches Werk (Weinbuch 2010). In der Dokumentation steht neben Sachs‘ Zitat ein Foto, das vier nubische Tänzerinnen zeigt. Eine spielt die Gefäßtrommel, während die anderen klatschen (Orff 1976, 16). Orff kommentiert: „Die Trommel lockt zum Tanz. Tanz ist aufs engste mit Musik verbunden. Eine Regeneration der Musik von der Bewegung, vom Tanz her, war meine Idee, die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte“ (ebd. 17). Im Instrumentarium der Günther-Schule befanden sich eine große Trommel, einige Rührtrommeln, vier chinesische Tomtoms, eine chinesische Fasstrommel, eine zylindrische Doppelfelltrommel, eine Schellentrommel, mehrere Rahmentrommeln (Kugler 2000, 194 ff., Fotos: Orff 1976, 141f.) und mehrere unten offene, durch Schrauben stimmbare Zylindertrommeln auf kleinen Ständern (Orff 1976, 69). Da sie wie die Kesselpauken mit weichen Schlägeln gespielt wurden, trugen sie die irreführende Bezeichnung Tanzpauken. Eine Zeichnung von Dorothee Günther in Bergeses Heft „Übung für Schlagwerk: Handtrommel“ zeigt, dass alle mit der Hand geschlagenen Trommeln als Handtrommel bezeichnet wurden, also Rahmentrommel, Zylindertrommel, Konustrommel und Fasstrommel (Bergese 1932, Foto: Kugler 2002, 117). Diese Instrumente stammten fast alle von der Dresdener Firma Spangenberg.
Die Beschreibung der ersten künstlerischen Explorationen Orffs in der Günther-Schule zeigt, dass Orff selbst die Rahmentrommel nicht mit dem Tanz sondern mit der expressiven > Sprache, seinem ureigenen Medium verbunden hat. Als Motivation für eine metrisch freie Improvisation ließ er „Trommelmonologe“, „Dialoge“ und „Streitgespräche“ (Orff 1976, 23) mit Trommeln gestalten und verband das Spiel auf der Rahmentrommel mit expressiver Sprachgestaltung. Als Material werden „Vor meinem Fenster singt ein Vogel“ von Arno Holz, „Bitte an den Schlaf, nach schweren Stunden“ von Detlev von Liliencron und „Zum Einschlafen zu singen“ von Rainer Maria Rilke sowie ältere Balladendichtung genannt (ebd. 23ff. mit handschriftlichen Notenbeispielen).
Die Entwicklung des Trommelspiels mit differenzierten Anschlagsarten (Orff 1976, 18) wurde nicht von Orff sondern von Keetman und Maja Lex, später auch von Bergese (Fotos im OZM) vorangebracht. Insofern entspricht die sprachliche Wir-Form in Orffs Bericht über die Anfänge der Günther-Schule und vor allem über das Trommelspiel (Orff 1976, 18) nicht den Fakten. Es existiert kein einziges Foto von Orff beim Trommelspiel. Lex hat viel mit der Rahmentrommel unterrichtet und auch die Doppelfelltrommel gespielt (Foto: Orff 1976, 19). Den systematischen Unterricht auf den verschiedenen Trommeln und > Pauken gab zunächst Keetman. Bergese war Pianist und hatte in Berlin musikethnologische Vorlesungen besucht. Er lernte 1931 indonesischen Tanz kennen und nahm bei einem indonesischen Musiker Unterricht im Handtrommelspiel (Kugler 2002, 110). Noch im gleichen Jahr erlebte er in Berlin eine Vorführung der Günther-Schule und wurde Schüler und ein Jahr später Lehrer. Er unterrichtete 1932 auf den > Schulwerkkursen und veröffentlichte mehrere Hefte für das OSW „Elementare Musikübung“. Bei dem Kurs im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht in Berlin, bei dem auch Sachs und Georg Schünemann anwesend waren, führte Bergese die Doppelfelltrommel, die Konustrommel und die chinesische Doppelfelltrommel vor (Kugler 2000, 223, Foto: Kugler 2002, 112). Er entwickelte fünf differenzierte Anschlagsarten und unterrichtete auch Keetman und Lex (Foto: Kugler 2002, Bergese, 109).
Mit dem Beginn der Schulfunksendungen 1948 (> Rundfunk) und der Publikation des OSWs > Musik für Kinder“ lag die Vermittlung des Trommel- und Paukenspiels (> Pauke) über die vielen > Schulwerkkurse am Mozarteum bis zur Gründung des Orff-Instituts bei Keetman (Fischer 2009, 45ff., 291ff.). Orff hatte bereits in seinem ersten Aufsatz ein methodisches Vorgehen „von der Begleitung zur eigenen Bewegung durch Stampfen und Klatschen über Rasseln bis zur Trommel, weiter bis zu Trommeln mit verschiedenen Tonhöhen“ skizziert (Kugler 2002, 170). Keetman ging auf diesem Weg konsequent weiter und begann ihren systematisch vorbereiteten Unterricht immer mit > Bewegungsimprovisation und > Körperperkussion (Klanggesten). 1956 und 1973 wird die Trommel in den beiden Heften „Stücke für Flöte und Trommel“ zum Duo-Instrument (Regner 2004). Die Kombination Einhandflöte und Trommel war bereits fester Bestandteil der Tanzmusik der Spielleute des Mittelalters (Bachfischer 1998, 78f.). Mit ihrer Bemerkung im Vorwort, die Trommel solle „sprechen und tanzen“ (Keetman 1956 o.S.) assoziiert Keetman sowohl diese frühe Praxis als auch das ästhetische Konzept der afrikanischen Musik (> Afrika).
Für die pädagogische Praxis mit Kindern und Jugendlichen erwächst dem Trommelspiel ein großes Problem durch das ästhetische Konzept der Rockmusik. Das motionale und klangliche Bild wird vom Drumset beherrscht, bei dem die Trommeln mit Stöcken geschlagen werden und deren Klang elektronisch verstärkt auf die Rezipienten trifft. Damit eng verbunden ist die visuelle Erscheinung des Schlagzeugers, der durch sein motorisches Ausagieren den Eindruck von geballter Ausdruckskraft, durch die Power auf das Publikum übertragen wird. Besonders im Hard Rock und in Heavy Metal ist der aggressive Gestus dieser Praxis und die dadurch ausgelöste ekstatische Motorik des Publikums erklärtes ästhetisches Konzept. Der Rock-Schlagzeuger Mickey Hart der berühmten amerikanischen Rockgruppe Greatful Dead paraphrasiert im Vorwort seines bemerkenswerten Buches „Die magische Trommel“ einen Passus aus einem Buch von Curt Sachs, das auch Orff benützt hat: „Rhythmus und Lärm. Sie sind die ursprüngliche Heimat des Schlagzeugers“ (Hart/Stevens 1991, 24). Bei Sachs heisst es: „Diese Vorstufen (der Musik, MK) stehen im Dienste zweier Elementarbedürfniss: Rhythmus und Lärm“ (Sachs 1959, 25). Diesen Aspekt konkretisiert Hart, ausgehend von seinen eigenen Erfahrungen als Schlagzeuger und stützt diese durch Literatur (Leo Frobenius, Joseph Campbell, John Blacking). Er bespricht auch religiöse und kultische Aspekte in der weltweiten Ethnotradition des Trommelspiels. Die pädagogische Praxis wird versuchen, die für Kinder und Jugendliche anziehende Möglichkeit einer kraftvollen Selbstartikulation durch lärmiges Spiel zu respektieren und sie in Richtung auf eine differenzierte Praxis weiter zu entwickeln. Ein wichtiger Weg zu einem differenzierten Trommelspiel, das den Aspekt der Power nicht außeracht lässt, führt über die afrokubanischen und afrobrasilianischen Trommeln (Bongo, Conga). Schon das Erlernen der verschiedenen Sounds (Anschlagsarten) auf der Conga mit den Händen, also ohne das aggressive Element der Stöcke, verlangt eine genauere Kontrolle des Schlagens durch das Hören.
Literaturhinweise:
Bach, Rudolf: Das Mary Wigman-Werk. Dresden 1933
Bachfischer, Margit: Musikanten, Gaukler und Vaganten. Spielmannskunst im Mittelalter. Augsburg 1998
Bergese, Hans: Übung für Schlagwerk: Handtrommel. Mainz 1932 (OSW Elementare Musikübung, Heft B 1)
Buchta, Harald/Meyer, Andreas: Trommeln, in: MGG, neubearb. Aufl., Bd. 9, Kassel 1998, Sp. 844-879
Hart, Mickey: Die magische Trommel. Eine Reise zu den Quellen des Rhythmus. München 1993 (Coautoren: Jay Stevens, Fredric Lieberman)
Keetman, Gunil: Stücke für Flöte und Trommel. Mainz 1956
Keetman, Gunild: Stücke für Flöte und Trommel II. Mainz 1973
Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Frankfurt/M. 2000
Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002
Kugler, Michael: Hans Bergese, in: Kugler 2002, 109-120
Kugler, Michael: 1914 – Der Untergang des Schönen und die Geburt des Elementaren. Mary Wigmans Auftreten und Helleraus Ende, in: Orff-Schulwerk Heute 91, Winter 2014, 46-51
Orff, Carl: Elementare Musikübung, Improvisation und Laienschulung (1932/33), in: Kugler 2002, 183-192
Orff, Carl: Erinnerung, in: Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 1, Frühzeit. Tutzing 1975
Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 3)
Orff, Carl: Erinnerungen. Leben und Werk. Mainz 2020 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 1)
Rault, Lucie: Vom Klang der Welt. Vom Echo der Vorfahren zu den Musikinstrumenten der Neuzeit. München 2000
Regner, Hermann: Eine Fülle guter, anregender, bewegender Musik. Gunild Keetman: Stücke für Flöte und Trommel – Versuch einer Annäherung, in: Regner, Hermann/Ronnefeld, Minna (Hg.): Gunild Keetman 1904-1990. Mainz 2004, 162-177
Rubin, William (Hg.): Primitivismus in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1996 (3. Aufl.)
Sachs, Curt: Vergleichende Musikwissenschaft. Musik der Fremdkulturen (1930). Heidelberg 1959
Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010
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