Barbarische Suite

Die „Barbarische Suite“ (Choreographie: Maja Lex, Musik: Gunild Keetman) ist ein fünfteiliges Tanzwerk der Münchner Kammertanzbühne (später > Tanzgruppe Günther) mit den Einzeltiteln „Treibende Rhythmen“, „Stäbetanz“, „Paukentanz“, „Kanon“ und „Sprungtanz“. Der Titel stellt eine Anlehnung an das berühmte „Allegro barbaro“ für Klavier von B. Bartók (Uraufführung 1921). Schon im ersten Tanzabend der Münchner Kammertanzbühne gibt es bereits eine „Bartók-Suite“ und 1928 brachte der Choreograph Aurel von Milloss Tänze zu Bartóks „Allegro barbaro“ zur Aufführung, was Dorothee Günther sicher bekannt war (Kugler 2002, 139).

Die „Barbarische Suite“ wurde zum ersten Mal auf dem 3. Deutschen Tänzerkongress 1930 in München aufgeführt und von der Fachpresse mit Begeisterung aufgenommen: „Ein ganz großer Erfolg der Münchner Kammertanzbühne. Ihre ganz entfesselte und doch bis ins letzte gebändigte rhythmische Vehemenz erobert die Bühne…“ (Kugler 2002, 83). Der Tanzkritiker Joseph Lewitan betonte, dass „… hier, auf dem Boden des neuen Tanzes alles Epigonenhafte vermieden wird, frei von Wigman und sonstigen Einflüssen ein positiver, lebensbejahender Elan in Tanz umgesetzt wird, wie eine rhythmische und technische Exaktheit mit eigenen Mitteln erreicht wird, die – erstmalig in der Geschichte des neuen Tanzes – sich mit der Präzision der Ballettkultur messen lassen“ (Kugler 2002, 83). Das Interesse am Neuartigen dieses Tanzstils war so groß, dass D. Günther sich veranlasst sah, in der Zeitschrift Schrifttanz zum Titel und zur Choreographie Genaueres mitzuteilen. Mit dem Wort „Barbarisch“ sollte darauf aufmerksam gemacht werden, „dass es sich hier nicht um tänzerisch besonders herauskultivierte Bewegungsformen handelte, sondern um in Grunde ganz einfache, aber rhythmisch anpackende Formen, die einander bedingen, treiben, aufhalten, zur Stauung bringen, um wieder von neuem losbrechen zu können. So wie Welle auf Welle heranrollt, sich staut, zerbricht und wieder überstürzt wird; Urelement der unaufhörlichen Bewegung. Urtyp-barbarisch“ (Günther 1931, zit. Kugler 2002, 140). Die Begriffe „Urelement“ und „Urtyp“ weisen auf die Suche nach dem > Primitiven oder > Elementaren hin, die seit der Suche des Expressionismus nach den primären Quellen der künstlerischen Produktion die ästhetische Theorie beherrschen. Mit dieser Choreographie schafft Lex ein Tanzwerk, „das nur auf die Bewegung als Dynamik, Unaufhörliches, Rhythmisches und Einfaches im inneren Sinn, gestellt ist“ und „das sich frei macht von den geistigen Vorstellungswelten im heutigen Tanz“ (ebd. 140). Unüberhörbar findet hier eine Abgrenzung zum > Ausdruckstanz im Sinne von R. v. Laban und M. Wigman statt. Gleichzeitig liest sich dieses Zitat als erster Entwurf zur Ästhetik des > Elementaren Tanzes.

Die „Barbarische Suite“ besteht aus fünf Teilen:

Nr. 1 „Treibende Rhythmen“

Nr. 2 „Stäbetanz“

Nr. 3 „Paukentanz“

Nr. 4 „Kanon“

Nr. 5 „Sprungtanz“

Es ist schwierig, ohne Filmaufnahmen das Bild einer historischen Choreographie zu zeichnen. Die Beschreibung von D. Günther (Günther 1931), Pressekritiken und Fotomaterial erlauben lediglich eine skizzenhafte Vorstellung. Die „Treibenden Rhythmen“ am Anfang und der „Sprungtanz“ am Schluss zeigen eine starke Dynamik durch raumgreifende Bewegungen. Der > „Stäbetanz“ steht „ganz allein auf der Person von Maja Lex, neben ihr zwei Sitztänzerinnen; sie selbst aus dem Sitz in den Sitz zurücktanzend. Das wesentlichste Moment ist musikalisch: die 3 Tänzerinnen arbeiten den Klang ihrer bewegungsmäßig bedingten Bambusstäbe (zirka 40 cm lang) in den Orchesterklang ein, ebenso ist das Händeklatschen der 2 Sitztänzerinnen, die ihre Stäbe niederlegen, wenn Maja Lex aufsteht, einkomponiert. (…) Das Ganze ein Wechsel panthergleicher Ruhe und Sprungbereitschaft“ (Günther 1931, zit. Kugler 2002, 142). Zwei Fotografien (Orff 1976, 98) und drei handschriftliche Partiturseiten von G. Keetmans Musik (ebd. 99-101) ermöglichen eine Annäherung an diese Choreographie. Auch vom „Paukentanz“, der in Tanz und Musik ausschließlich von Keetman stammt (Kugler 2002, 139) gibt es Fotografien (Orff 1976, 190f.). Die „Pauken nehmen die Bühnenmitte ein und ihre Stimmen sind ebenfalls dem Orchester einkomponiert“ (Günther ebd. 142). Zwei Fotografien zeigen deutlich, wie die Körperdynamik des perkussiven Agierens auf den Pauken tänzerisch in Erscheinung tritt. Das entspricht dem Konzept der > Elementaren Musik, in der Instrumentalspiel und Tanz aus denselben motionalen Impulsen hervorgehen sollen. Auch im „Sprungtanz“, einem „Furioso mit 8 Tänzern“ (ebd.), bilden durch Fußrasseln verstärkte Stampfrhythmen einen Teil der musikalischen Struktur. Die technische Brillanz der Tanzgruppe ist auf Fotos deutlich zu erkennen (Orff 1976, 195). Die „Kölnische Zeitung“ (19.12.1934, zit. Orff 1976, 198) sprach deshalb von einer „Einheit zwischen Bewegung und Rhythmus, zwischen Musik und Körperausdruck, – das Ideal eines tänzerischen Prinzips“.

Für den, Tanz und Musik integrierenden kreativen Prozess spielt eine wichtige Rolle, dass die Musik von G. Keetman von der tänzerischen Vorarbeit an improvisatorisch entworfen und immer wieder angepasst wurde (Keetman 1978/2011, 59ff.), sodass die Partitur erst nach der dritten Aufführung aufgezeichnet werden konnte (Günther 1931, in: Kugler 2002, 140). Bei Proben und Aufführungen wurde immer auswendig gespielt. Das Orchester hatte folgende Besetzung: Xylophone, Blockflöten, Pauken, Trommeln, Holzblocktrommeln und Holzglocken, Kastagnetten, Bambusstäbe, Gongs, hängendes Becken sowie Flaschen-, Korb- und Fußrasseln (Günther 1931). Der musikalische Satz beruht auf Patterntechnik (> Ostinato) und monoklanglichen Strukturen (> Bordun). Nach C. Fischer (Fischer 2009, 156 ff., 185 ff.) können Keetmans Kompositionen als frühe minimalistische Musik kategorisiert werden.

 

Literaturhinweise:

Abraham, Anke/Hanft, Koni (Hg.): Maja Lex. Ein Porträt der Tänzerin, Choreographin und Pädagogin. Köln 1986,

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Günther, Dorothee: Die barbarische Suite, in: Schrifttanz 1931, H. 2, 34-36. Nachdruck, in: Kugler 2002, 139-143

Keetman, Gunild: Erinnerungen an die Günther-Schule (1978), in: Haselbach, Barbara (Hg.): Studientexte zu Theorie und Praxis der Orff-Schulwerks. Bd. 1, Basistexte aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011, 45-65 (dt. u. engl.)

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Dokumentation C. Orff und sein Werk Bd. 3)

Selden, Elizabeth: Maja Lex, in: Dies.: The Dancer’s Quest. Essays on the Aestetic of Contemporary Dance. Berkeley/Cal. 1935, Neudruck in: Kugler 2002, 204-208 (engl.)




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