Bordun

Der Bordun (engl. drone) ist ein weltweit verbreitetes Klangphänomen. Seine monoklangliche (monophone) Struktur beruht auf einem gehaltenen Dauerton, dem Bordunton oder Zusammenklang, dem Bordunklang. Liegeton oder Liegeklang werden oft durch repetitive Formeln aufgelockert. Die Musikethnologie spricht von „Stützton“ oder „Stützklang“ und unterscheidet den „harmonischen Bordun“ vom „Gerüstbordun“ (Brandl 1995, 72). Der harmonische Bordun steht „mit den tonalen Haupttönen der Melodie in vertikal-konsonanten Intervallverhältnissen“ (ebd.). Hierzu gehören die Bordunklänge in der Volksmusik der Randgebiete Europas wie z.B. in der Launedda-Musik auf Sardinien, der Dudelsackmusik in Osteuropa und der Volksmusik Griechenlands (Hoerburger 1986). Wegen der einseitigen Festlegung des Borduns im OSW auf die Instrumentalpraxis muss betont werden, dass der Bordunklang ein universales Strukturelement für das Hervorbringen von Musik darstellt und deshalb das vokale Bordunieren auch in zahlreichen Musiktraditionen Europas belegt ist (Stockmann 1992, 145ff.). So zeigt sich z.B. in der Volksmusik Sardiniens der Bordun sowohl in der Singpraxis als auch im Instrumentalspiel. Der in den Weltmusikkulturen erfahrene Orff-Pädagoge Doug Goodkin begründet die Anwendung des Bordun ethnomusikologisch und weist auf die lebendige Bordunpraxis von der „Appalachian banjo and dulcimer music“ bis zur „classical Indian music“ (Goodkin 2002, 147) hin. Von besonderem Interesse dürfte die, von griechischen Musiker/innen wiederentdeckte anatolische Musik (Niki Tramba u.a. 1998) sein. Ihre Bordunstrukturen, Modi, Instrumente und Gesangpraxis greifen auf eine über tausend Jahre alte Tradition zurück.

Der Gerüstbordun bildet die Stütze für autonome Melodien, die auf Tonartmodellen wie Maqam oder Raga beruhen und die in ihrem Spannungsverhältnis ständig auf den Basiston bezogen sind. Das betrifft alle maghrebinischen und orientalischen Musikkulturen (für die Türkei vgl. Reinhard 1984, 61-63). Viele Musikinstrumente geben den Bordun bereits durch ihre Bauart vor wie z.B. Sackpfeife (Dudelsack), Drehleier, Launeddas (Sardinien) und Tanpura (Indien). Wenn der Bordun strukturell eine zentrale Rolle spielt, dann werden Instrumente verwendet, die ausschließlich einen Bordunklang hervorbringen wie die Tanpura (Danielou 1975, 104 f., 121). Die Sackpfeife prägte über Jahrhunderte die Basismusikkultur in Ungarn. Sie war „gebräuchlich bei Hirten, Bauern, Soldaten, Bergleuten und auch bei den städtischen Bürgern, sie hatte ihren Platz in den Musikkapellen der Adligen und gehörte eine Zeitlang auch noch zu den Musikinstrumenten der im Entstehen begriffenen Zigeunerkapellen“ (Manga 1989, 49). Auch in der alpenländischen Volksmusik die seit der Tobi-Reiser-Renaissance nur noch als akkordharmonisches Phänomen wahrgenommen wird, spielten Bordunpraxis und Borduninstrumente eine zentrale Rolle (Klier 1956, 37-47. Natürlich sollte das Bordunphänomen mit Hilfe von traditionellen Musikarten auf Tonträgern erkundet werden, an denen durch die CD-Dokumentation der Unesco Collection kein Mangel ist.

Mit der Entwicklung einer auf den Bass bezogenen Mehrstimmigkeit und der engen Bindung der Melodie an eine Bassfolge seit dem Generalbasszeitalter, sowie mit der Entstehung des Dur-Moll-Systems anstelle der > Modi breitet sich in der europäischen Kunstmusik ein neues Hören aus, das Bordunklänge als dissonant bewertet. Die Borduninstrumente verschwinden und ihre Musik wird nur noch als Bezug auf Volksmusik zitiert. So findet sich im 3. Satz von Wolfgang Amadeus Mozarts Violinkonzert in D-Dur (K.V. 218) die Spielmannspraxis einer mitklingenden Bordunsaite und Franz Schubert integriert das Spiel auf der Drehleier in das Lied „Der Leiermann“ im Zyklus „Die Winterreise“. Die Musik der Romantik greift nationale Volksmusiktypen auf, vor allem Tänze, in denen die Bordunpraxis noch lebendig ist wie z.B. in den Mazurken von Frédéric Chopin. Der Bordunklang dient auch dazu, das Alte, längst Vergangene zu symbolisieren wie z.B. in Modest Mussorgskys Komposition „Das alte Schloss“ im Klavierzyklus „Bilder einer Ausstellung“. Mit dem Beginn der Moderne entsteht ein neues Interesse an Volksmusik und Folklore. Auf ethnomusikologische Arbeit in Ungarn gehen zahlreiche Kompositionen B. Bartóks zurück, in denen sich immer wieder Bordune finden. Auch der Orgelpunkt ist ein Bordunphänomen. Er entsteht in der frühen Orgelmusik des 15. Jahrhunderts durch das Festhalten eines Fundamenttons im Pedal und wird zu einer wichtigen improvisatorischen Spielpraxis. Die daraus entwickelte Kompositionstechnik zeigt z.B. der 15-taktige Orgelpunkt auf a am Anfang des Präludiums in a-moll für Orgel oder der zwölftaktige Orgelpunkt auf g im Chor „Herr, Herr, Herr“ in der Johannes-Passion von Johann Sebastian Bach. Auch der 137 Takte dauernde Es-dur Akkord am Anfang der Oper „Rheingold“ von Richard Wagner kann als harmonischer Bordun gesehen werden.

Im Orff-Schulwerk bildet der Bordun die Basis für den spezifischen > Klangsatz (Thomas 1977, 91 ff.). Dabei spielen musikhistorische, musikethnologische und musikpädagogische Aspekte eine Rolle. Es ist deshalb abwegig, der Bordunpraxis im Schulwerk zu unterstellen, sie würde Kinder auf ein regressives Entwicklungsstadium oder auf historische Formen fixieren. Mit Bordun und > Ostinato findet eine Kontaktnahme mit Monoklanglichkeit und Patternprinzip statt, „die als Strukturen längst vor der abendländischen Stilentwicklung vorhanden waren und auch heute in den Musikkulturen der Welt unverändert weiter bestehen“ (Kugler 2003, 128). Ein Beispiel bietet die Publikation „Iranian Folk Songs for Children“ (Kimiavi 2017) der iranischen Orff-Schulwerk Gesellschaft. In den Arrangements für Orff-Instrumente und Gesang lebt die Bordunpraxis der orientalischen Musikkulturen weiter. Die CD-Dokumentation (Medien: Kimiavi 2017) verwendet traditionelle Instrumente wie Setar, Kamancheh, Oud und Santoor, die sich durch ihre perkussive Klangerzeugung (> Perkussion) und obertonreiche Klangstruktur überzeugend mit den traditionellen Orff-Instrumenten mischen.

Aus musikpädagogischer Sicht bildet der Bordun für das experimentierende Aneignen von klanglichen Strukturen eine optimale Basis. Für das Konzept eines inklusiven Musikunterrichts ist an eine Erschließung des klanglichen bzw. harmonischen Aspekts der Musik ohne Bordunpraxis kaum zu denken. Aktive Erfahrungen mit dem einen Klang in Form eines Klangblocks oder eines einfachen oder ausgestalteten Borduns sind die Voraussetzung für ein Weitergehen zu harmonischen Strukturen mit einfachen Stufen- oder Dominantklängen.  Die Bordunpraxis in der > Günther-Schule nahm ihren Anfang im Fach > Klavier-Übung: „Wir begannen mit Klang- und Anschlagproben: mit Bordunquinten in tiefen und höheren Lagen, laut und leise gespielt, rhythmisiert, schwingend oder staccato, mit Verdoppelungen, Brechungen und Wiederholungen. Zu diesen grundierenden Klängen, die bald zu größeren Ostinati ausgebaut wurden, improvisierte ich auf einem zweiten Klavier Melodien, die für die anschließenden Improvisationen der Schüler als Modell dienen konnten. Der nächste Schritt bestand darin, zwei Schüler an einem Instrument Bordun und Melodie spielen zu lassen …“ (Orff 1976, 28). Den tonalen Rahmen gaben > Pentatonik und > Modi vor. Orff hat diese „Bordunübung für einen und mehrere Spieler“ (ebd. 31-62) im Rückblick aufgezeichnet (Klangliche Realisierung:  Kraus/Hiller 1996).

Beim OSW unterscheidet man den einfachen Bordun wie z.B. den stehenden Quintbordun und den „wechselnden“ oder „schweifenden Bordun“ (Hoerburger 1966, 24). Anstelle eines festen Borduntons oder Bordunklangs findet man ostinate (> Ostinato) Formeln, die das Bordungerüst umkreisen. Für die Ausführung des Borduns geben Orff/Keetman (1950-54) oft nur „Bass“ an, nennen aber für die Besetzung unterschiedliche Instrumente wie Stabspiele, Streichbordun, Kontrabass, Cello, Gitarre, Laute, Blockflöten und Pauken. In der Satztechnik des OSWs > „Elementare Musikübung“ und > „Musik für Kinder“ lassen sich das Klangprinzip Bordun und das Formprinzip Ostinato kaum trennen. Da der Instrumentalstil im OSW „Musik für Kinder“ nach dem Stand der Forschung (Thomas 1977, Kugler 2000, Fischer 2009) weitgehend auf Gunild Keetman zurückgeht, muss man die Erscheinungsformen des Borduns im OSW an ihren Arbeiten festmachen. Der Klangsatz erweist sich als geschichtetes Phänomen mit verschiedenen Ebenen, deren Tonmaterial durch Ostinati geformt sind. Keetman nennt deshalb in ihrem Methodikbuch „Elementaria“ ein Modell für Stabspiele „Geschichtete Ostinati“ (Keetman 1970, 78-85) und erweitert diese in „Paralipomena“ (Orff/Keetman1977, 18 f., 42 f., 64 f.). Zwei Modelle sind in der Produktion „Musica Poetica“ auf CD (CD 3 und CD 5) und auf der CD „Keetman Collection“ dokumentiert.  Bedauerlicherweise sind diese, auf den > Minimalismus hinweisenden Modelle, die es mehreren Spielern ermöglichen, anspruchsvolle Klangstrukturen zu bauen, in der OSW-Praxis weitgehend unbekannt. Weil die strukturgebenden Stabspiele keine Liegetöne erzeugen können, löst Keetman den festen Bordunklang durch zahlreiche sich überlagernde Spielfiguren auf, die wie ein Gittergerüst konstruiert sind und deshalb der Repetitiven Musik bzw. Minimalistischen Musik zuzuordnen sind (Fischer 2009, 185-239).

Wie sich Orff und Keetman eine methodische Realisierung des Borduns vorgestellt haben, lässt sich an der „Ostinatoübung für Stabspiele“ im 1. Band der > „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950, 100 ff.) und am Teil „Bordun“ im 2. Band (Orff/Keetman, 6 ff.) studieren. Trotz der Einfachheit des Notenbilds verlangt eine differenzierte Ausführung der Spieltechnik und der Konzentration einiges ab. Letzteres betrifft vor allem die repetitiven Techniken. Immer wieder muss betont werden, dass diese Modelle von Orff und Keetman eine Ausgestaltung fordern, wobei dem künstlerischen Anspruch keinerlei Grenzen gesetzt sind. Eindrucksvolle Beispiele sind „Der Dachs soll z’Lichtmeß“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 2, 62-69) für einen Quintbordun c-g und „Zwei Spielstücke“ von G. Keetman (ebd. 104-110) für eine Stufenharmonik c-d über Bordunton c. In Orffs kompositorischem Werk sind Bordune und Klangblöcke Teil der vertikalen Struktur. Charakteristische Beispiele finden sich in „Der Mond“ (1939), „Catulli Carmina“ (1943), und „Antigonae“ (1949). Um das Verständnis des Bordunphänomens in Orffs und Keetmans Kompositionstechnik voranzubringen, können als Vorgehensweise Bordun-Bausteine Orffs Werken entnommen und damit improvisiert werden.

Zwei Beispiele:

„Die Kluge“, 6. Szene, Klage des Eselmanns

„Carmina Burana“, Nr. 9, „Chume, chum geselle min“

Dabei muss an Orffs Hinweise zur vokalen Ausführung solcher Bausteine erinnert werden: „Die melodischen Übungen … werden durch Summern und Singen auf verschiedenen Konsonanten und Vokalen oder Klangsilben zur Darstellung gebracht“ (Orff 1933, 52). Eine fantasievoll geübte vokale Bordunpraxis unter Verwendung von ostinaten Formeln kommt übrigens dem verbreiteten Chanting und Mantra-Singen nahe. Da in der pädagogischen Praxis zunehmend Konzentrations- und Meditationsübungen eine Rolle spielen, öffnet sich hier dem OSW bei der Kompensierung von Aufmerksamkeitsdefiziten (ADHS) ein neuer Anwendungsbereich.

 

Literaturhinweise:

 

Adamak Ensemble: Iranian Folk Songs for Children, Music Score ed. by Nastaran Kimiavi. Namak Music 2017 (Farsi und Englisch)

Brandl, Rudolf M.: Bordun, in: MGG, 2. neubearb. Ausgabe, Sachteil Bd. 2. Kassel 1995, Sp. 69-75

Danielou, Alain: Einführung in die indische Musik. Wilhelmshaven 1975

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Goodkin, Doug: Play, Sing and Dance. An Introduction to Orff-Schulwerk. Mainz/New York 2002

Hoerburger, Felix: Musica vulgaris. Erlangen 1966

Hoerburger, Felix: Bordunbildungen in der Volksmusik Griechenlands, in: Ders.: Volksmusikforschung. Aufsätze und Vorträge 1953-1984. Laaber 1986, 212-222

Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970

Kimiavi, Nastaran (Ed.): Namak Music Score. Iranian Folk Songs for Children. 2017

Klier, Karl M.: Volkstümliche Musikinstrumente in den Alpen. Kassel 1956

Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Bewegungsorientierte Konzeptionen der Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2000

Kugler, Michael: Motion, Perkussion, Improvisation. Orffs Elementare Musik und ihre musikanthropologischen Grundlagen, in: Hörmann, St. u.a. (Hg.): In Sachen Musikpädagogik. Fs. f. Eckard Nolte. Frankfurt/M. 2003, 109-131

Manga, János: Ungarische Volkslieder und Volksinstrumente.  Budapest 1989

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl/Keetman Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde., Mainz 1950-54

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Mainz 1977

Reinhard, Kurt und Ursula: Musik der Türkei, Bd. 2: Die Volksmusik. Wilhelmshaven 1984

Stockmann, Doris (Hg.): Volks- und Popularmusik in Europa. Laaber 19892 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft Bd. 12)

Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

 

Medien:

 

Adamak Ensemble: Namak. Iranian Folk Songs for Children. Namak Music 2017 (2CDs mit dem vollständigen Arrangement und mit getrenntem Instrumentalarrangement zur vokalen Ausführung). Zweite Folge: Namak II, 2018

Anthology of Traditional Music. Anthologie des Musiques Traditionelles. CD Unesco Collection

Keetman Collection. Orff-Schulwerk. CD Deutsche Harmonia Mundi Freiburg/Br. 1991

Kraus, Ulrich/Hiller, Wilfried: Orff-Schulwerk Vol. 3 Piano Music. Tucson/Arizona 1996, Celestial Harmonies (CD)

Niki Tramba, Ross Daly & Labyrinth At The Café Aman. Frankfurt/M. 1998, Network Medien

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musica Poetica. Orff-Schulwerk. 6 CDs in Kassette. Kommentar im ausführlichen Booklet von W. Thomas. BGM Music 1994

 

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Bearbeitet 5.4.2023