Das „Dirigieren steht im Spannungsfeld von Musik, Bewegung, Interpretation und Führung…“ (Leonhardmair 2014, 282). Seine Geschichte reicht von der Gestik im Alten Ägypten, der Cheironomie der liturgischen Einstimmigkeit im Abendland und deren graphischer Darstellung durch die Neumen bis zu den mensurierenden Gesten bei der Leitung der Vokalpolyphonie von den tactus schlagenden Kantoren der Generalbasszeit bis zum modernen Dirigat in der frühen Romantik und schließlich zur sowohl expressiv wie subjektiv geprägten Star-Dirigenten der Gegenwart (Schünemann 1987, Leonhardmair 2014, 281-284). Das Dirgieren ist eine leibliche Ausdrucksform von Musik und besitzt sowohl eine semantische wie eine performative Komponente. Der Dirigierende erlebt die Musik sowohl aktiv wie rezeptiv und handelt aus dieser Einheit heraus. Daraus hat Carl Orff in der > Günther-Schule eine Übungsform für die Gruppenimprovisation (> Improvisation) geschaffen, die er Dirigierübung und Dirigierimprovisation genannt hat, während die Schülerinnen die Bezeichnung Orchesterimprovisation verwendeten (Kugler 2000, 197-199). Die Zielsetzung entsprach der gymnastischen und tänzerischen Ausrichtung der Schule. Es ging eine Synthese von Bewegung und Musik durch kreative Prozesse. Obwohl Orff auch als Dirigent tätig war (Orff 1975 Alte Meister, 141ff.), hatten diese Übungen nichts mit dem traditionellen Verständnis des Dirigierens zu tun. Es ging um die Leitung eines improvisierenden Ensembles mittels einer äußerst differenzierten Körpersprache, denn „der ganze Körper als Totalität muss in das Dirigieren, wie auch in die Spieltechnik der Instrumente einbezogen werden“ (Orff 1931/32, in: Kugler 2002, 177). In der Dokumentation gibt Orff eine informative Beschreibung, für deren Verständnis die Abbildungen im 3. Band der Dokumentation (Orff 1976, 76-79) unentbehrlich sind: „Es war kein Taktschlagen, kein Angeben der Taktart, sondern gestisches Gestalten einer Improvisation. Zwar wurden Taktarten und ihre Schlagtechnik auch geübt; worauf es mir aber ankam, war ein fast tänzerisches Führen der Musik, die wie alle unsere bisherigen Übungen vielfach improvisiert wurde: Musik aus und nach der Bewegung. Bestimmte Rhythmen wurden vom Dirigenten durch unmissverständliche Zeichen angegeben. Jeder Schlag, jeder Rhythmus wurde gestisch dargestellt, wobei auch die Dynamik und Agogik miteinbezogen waren. Es wurde jedes Instrument und jede Instrumentengruppe angesprochen und geführt. Für das Durchhalten ostinater Komplexe und für Abschlüsse gab es eigene Zeichen. Auch wurden, ebenfalls durch Zeichengebung ausgelöst, Teile völlig frei, man würde es heute aleatorisch nennen, improvisiert“ (Orff 1976, 74).
Die Dirigierübung ermöglichte es den Schülerinnen, mit einem „tänzerischen Führen der Musik“ (ebd.) ihre gymnastischen und tänzerischen Fähigkeiten für ein körperliches Musikverständnis einzusetzen. Für Orff selbst, der nach Bekunden von Schülerinnen auf dem Symposion „Treffen der Günther-Schülerinnen“ (OZM 1998) keine tänzerischen Aktivitäten gezeigt hat, bildete die Dirigierübung seinen spezifischen Beitrag zur Bewegungsarbeit an der Günther-Schule. Sie war in gewissem Sinne Orffs Tanz. Die Tänzerin und Choreographin Maja Lex erinnert sich in einem Interview (1982) an den Verlauf dieser Übung: „Es saßen ca. 25 Teilnehmerinnen mit Instrumenten da und man sollte dieses Orchester in Bewegung bringen. Es war aufregend, denn es war nichts da. Man musste etwas aus dem Nichts schaffen. Man gestaltete als sukzessives Musizieren und Einsetzen, etwa so:
- Grundrhythmus
- Farbe, Instrumente
- Den Gruppen die Einsätze geben
- Einsatz einer Melodie, z.B. Flötenimprovisation“ (Kugler 2000, 198 f.)
Die Günther-Schülerin Ruth Opitz (Widmer 2002, 121ff.) hat besonders die psychologisch befreiende und für die Persönlichkeitsentwicklung bedeutsame Wirkung der Dirigierübung betont. Durch diese Übung gelang es ihr nach eigenem Bekunden, die aus dem schulischen Musikunterricht stammenden Hemmungen zu überwinden. Ähnliches bestätigt ein positiver Bericht des Musikwissenschaftlers und Monteverdi-Forschers Hans Ferdinand Redlich über einen Besuch in der Günther-Schule, in dem er besonders die Leistungen der Schülerinnen bei der Dirigierübung hervorhebt: „Es ist verblüffend, was gerade im Fall der musikalischen Zeichensprache die erzieherische Improvisation der Günther-Schule zu leisten vermag. Angehenden Kapellmeistern kann kein besseres Training gegen zivilisatorische Hemmungen und Mangel drastischer Zeichensprache empfohlen werden als die Methode der Dirigierimprovisation dieser Schule“ (Redlich 1931, in: Kugler 2002, 216).
Für diese Aktivitäten Orffs hatte die > Methode Jaques-Dalcroze, , die in der Weimarer Republik sehr verbreitet war und die Orff kannte, eine Vorbildfunktion. Zur fortgeschrittenen Arbeit in der Dalcroze-Rhythmik gehörte das gestische Leiten einer improvisierenden Gruppe (Kugler 2000, 111 ff.). Eine weitere Anregung ergab sich für Orff aus einer Beschreibung der Cheironomie in der altägyptischen Musikpraxis bei C. Sachs (1924). Man versteht unter Cheironomie (dt. Handweisung) die Leitung einer singenden Gruppe durch Handzeichen, wie sie auch in der altgriechischen Chorpraxis und im gregorianischen Gesang vor der Einführung der Notenschrift üblich war. Orff erwähnt auch, dass „in der altägyptischen Sprache Singen wörtlich übersetzt ‚mit der Hand Musik machen hieß‘“ (Orff 1932/33, in: Kugler 2002, 186 f.). Er hat daraus die persönliche Interpretation abgeleitet, diese Handweisung sei „ein reflexartiger Ausdruck der innerlich gehörten Musik“ (ebd. 185). Dementsprechend wies er seiner Dirigierübung die Aufgabe zu, eine innen gehörte Musik durch Gestik nach außen zu bringen. Orffs Dirigierübung setzt Musik in ein umfassendes Verhältnis zur bewegten Körperlichkeit, wobei „funktionale und performative“ (Leonhardmair 2014, 281f.) sowie kreative Aspekte zusammenwirken.
Literaturverzeichnis der OSG und COS: Orff 1976, Kugler 2000, 2002, Weitere Literaturhinweise: Redlich, Hans F.: Die Funktion der Musik im Rahmen der Günther-Schule (1931), Nachdruck in: Kugler 2002, 215-217 Leonhardmair, Teresa: Bewegung in der Musik. Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen. Bielefeld 2014 Sachs, Curt: Musik des Altertums. Breslau 1924 Schünemann, Georg: Geschichte des Dirigierens (1913). Hildesheim 1987 Widmer, Manuela: Die Schülergeneration – Ruth Opitz und Lola Harding-Irmer, in: Kugler 2002, 121-127
Erstellt am 21.01.2020
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