Carl Orffs „Sprechübung“ ist der erste Teil der > „Rhythmisch-melodischen Übung“ im Band 1 der > „Musik für Kinder“. Diese Sammlung von rhythmischen Sprechbeispielen soll den grundlegenden Zugang zur Musik bilden:
„Am Beginn aller musikalischen Übung, der rhythmischen wie der melodischen, steht die Sprechübung. Einzelwerte, Wortreihen, nach Klang und Sinn zusammengestellt, Rufe, Sprüche werden, wie die ausgeführten Beispiele zeigen, rhythmisch fixiert und in Notenschrift festgehalten. (…) Bei der Sprechübung werden gerader und ungerader, Volltakt und Auftakt, Taktwechsel u. ä. ohne Schwierigkeit erfasst. Klatsch- und Dirigierübung, mit der Sprechübung verbunden, erleichtern die Notation“ (Orff, in: Orff/Keetman 1950-54, Bd. 1, 161).
Diese dominante Rolle, die hier der Sprache zugeteilt wird, entspricht Orffs ästhetischem Konzept (> Orffs Musikbegriff), das sich primär an der ausdrucksstarken, szenischen > Sprache orientiert.
Die Bausteine der Sprechübung bestehen im Anfangsstadium aus einzelnen Wörtern, kleinen Wortreihen (z.B. 2/4 Apfelbaum / Apfelbaum / Birnbaum / Birnbaum / Nussbaum / Nussbaum, 3/8 Hollerbusch / Hollerbusch) und auch aus rhythmisierten Vornamen. Den nächsten Schritt bilden syntaktisch geschlossene Einheiten aus der Spruchdichtung, wie z.B. aus den meist nur zweizeiligen Wetterregeln und Sprichwörtern. Die einfache Spruchdichtung spielt auch in Orffs Theater eine strukturelle Rolle, vor allem in „Der Mond“, „Die Kluge“ und „Astutuli“. Im Anhang des 1. Bandes gibt Orff Hinweise, dass die rhythmisch gesprochenen Sprachbausteine zunächst mit > Körperperkussion begleitet und dann auch mit einfachen melodischen, zunächst pentatonischen Formeln weitergestaltet werden sollen. Als Musterbeispiel dafür können die „Bauernregeln“ im OSW „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 2, 60ff.) gelten. Das nächste Stadium ist dann die Gestaltung von rhythmisch gebundener Dichtung vom 16. bis zum 20. Jahrhundert.
Die Tatsache, dass die Sprachbeispiele meist aus älteren Sprachschichten stammen, macht die unmittelbare Umsetzung in der musikpädagogischen Praxis schwierig, wie ja auch Orffs Bemerkung, die musikalischen Parameter würden „ohne Schwierigkeit erfasst“ (siehe oben), zeigt, dass er mit der pädagogischen Praxis nicht vertraut war. Sein Konzept ist ein künstlerisches und kein pädagogisches. Nach diesem Konzept hat er die Schülerinnen in seiner Werkstatt, der > Günther-Schule in München in den 1920er Jahren unterrichtet. Schon damals hat er an der rhythmischen und melodischen Gestaltung poetischer Texte gearbeitet (Orff 1976, 23ff.). Die für die didaktische Vermittlung der Sprechübung notwendige Aufbereitung hat Orffs Schülerin und Mitautorin Gunild Keetman geleistet. Erst Jahre nach der Arbeit an den Schulfunksendungen (> Rundfunk), der Veröffentlichung der fünf grauen Bände (Orff/Keetman 1950-54), der Gründung des > Orff-Instituts und der weltweiten Kurstätigkeit hat Keetman auf Orffs ausdrücklichen Wunsch ihre methodische Werkstattskizze „Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk“ (Keetman 1970) veröffentlicht. Sie beginnt mit Kinderversen und Körperperkussion, die auf ein Metrum ausgelegt und dann als eintaktige „Rhythmische Bausteine“ (ebd. 23ff.) zur Weitergestaltung bestimmt sind. Daraus werden „Rhythmische Wortreihen“ gebildet, die als Basisstrukturen für Spruchdichtung oder für improvisierte Spracheinheiten bereitstehen. Die didaktische Zielvorstellung besteht in einer Aktivierung der expressiven, rhythmischen und syntaktischen Qualitäten der Sprache, die seit den 1970er Jahren unter dem sozial vermittelten Verhaltensmodell der Coolness weitgehend verloren gegangen sind. Selbstverständlich stellt diese Arbeit mit kleinen Bausteinen nur eine erste Stufe der Sprachgestaltung und war von Orff und Keetman für die Anwendung in der Vorschule und am Beginn der Grundschule gedacht. Von hier führt die künstlerisch motivierte Arbeit über komplexeres Material weiter bis zur Lyrik und zur experimentellen Arbeit mit Alltagssprache. Das Ziel künstlerischer Arbeit gibt Orff am Ende von Bd. 5 des OSWs mit einigen wenigen Beispielen an: „Das Märchen von Klein-Flöhchen und Klein-Läuschen“, „Drei Stücke aus Goethes ‚Faust‘“ und dem „Chor aus Sophokles ‚Antigonae‘“: ‚Ungeheuer ist viel‘“. (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 5, 117-129). Das letzte Beispiel aus Orffs „Antigone“ zeigt deutlich, dass die Sprechübung den Weg zu einer künstlerischen Arbeit mit Dichtung bahnen soll, die hohe Ansprüche setzt. Für die Germanistik der Sekundarstufe II eröffnen sich hier viele Möglichkeiten, um vom Lesen und Analysieren der Lyrik und des Theaters zu aktiver Gestaltung zu kommen.
In der Orff-Pädagogik der USA wurde Orffs Weg von der rhythmischen und expressiven Sprache zum Singen, Bewegen, und Instrumentalspiel konsequent weiterverfolgt. Sowohl Jane Frazees curricular konzipierte methodische Handbücher von 1987 und 2006 wie auch Doug Goodkins Anleitung zu einem fantasievollen künstlerischen Arbeiten von 2002 starten mit der rhythmischen Sprache in Verbindung mit den > Körperinstrumenten (Sound Gestures, Body Percussion).
Hinweis:
Parallel zu diesem Artikel soll das Stichwort > Sprache herangezogen werden.
Literaturhinweise
Frazee, Jane: Discovering Orff. A Curriculum for Music Teachers. New York 1987
Frazee, Jane: Orff-Schulwerk Today. Nurturing Musical Expression ad Understanding. Mainz, New York 2006
Goodkin, Doug: Play, Sing, and Dance. An Introduction to Orff-Schulwerk. Mainz, London 2002
Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde. Mainz 1950-54
Ronnefeld, Minna: Gunild Keetman – Pädagogin und Komponistin, in: Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz. Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002, 95-108
Copyright 2024 by Michael Kugler