Carl Orffs „Stücke für Sprechchor“ (1969) sind ein Teil der Editionsreihe > Jugendmusik im > Orff-Schulwerk der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg. Orff befindet sich mit diesen Stücken im Zentrum seiner künstlerischen Konzeption, nämlich der rhythmischen, dynamischen, gestischen und szenischen > Sprache. Es geht ihm um eine „Musikalisierung von Sprache“ (Thomas 1977, 125), nicht um die Vertonung von Texten im konventionellen Sinne. Das Repertoire an Sprechstücken verteilt sich auf den Band 5 des Orff-Schulwerks > „Musik für Kinder“, den Band „Stücke für Sprechchor“, die Sammlung „Paralipomena“ und die Sammlung „Stücke für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk“.
Überblick:
- Carl Orff/Gunild Keetman, Orff-Schulwerk > „Musik für Kinder“, Band 5, 117-129
– „Das Märchen von Klein-Flöhchen und Klein-Läuschen“
– „Drei Stücke aus Goethes ‚Faust‘“
– „Chor aus Sophokles‘ ‚Antigonae‘ von Friedrich Hölderlin“. („Ungeheuer ist viel“)
Zu diesen „Sprechstücken“ müssen die zahlreichen Sprechstücke gerechnet werden, die in den 5 Bänden der „Musik für Kinder“ verstreut sind.
- „Stücke für Sprechchor“ (1969)
– „Chor aus dem ‚Oedipus auf Kolonos‘ von Sophokles, Übersetzung von Friedrich Hölderlin“
– „Erste Olympische Hymne von Pindar, Übersetzung von Hölderlin“
– „An den Schlaf“ aus dem Philoktetes von Sophokles, Übersetzung von Hölderlin
– „Brod und Wein“ Hölderlin
– „Die Jahreszeiten“ Hölderlin
– „Quando conveniunt“
– „Sententia“
– Zwei Oden von Klopstock: „Die frühen Gräber“, „Weihetrunk an die toten Freunde“
– „Requiem“ von Friedrich Hebbel
– „Der Abend“ von Friedrich Schiller
– „Omnia tempus habent“
– Drei Stücke aus dem „Faust“ von Johann Wolfgang von Goethe: „Wie traurig steigt die unvollkommne Scheibe“, „Hexen-Einmal-Eins“, „Die grauen Weiber“
- „Stücke für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk“ (1977)
– „Sprechstudien“. Acht kurze lyrische Studien von Orff für einen oder mehrere Sprecher.
– „Copa Syrisca“. Lateinisches Gedicht von einem unbekannten Dichter aus der Umgebung Vergils (Thomas 1977a)
– „Sieben Gedichte von Bert Brecht“:
„Jahr für Jahr“, „Das Ölfeld“, „Die apokalyptischen Reiter“, „Moderne Legende“, „Karsamstagslegende“, „Epilog“, „Die Liebenden“.
- Nachtragssammlung „Paralipomena“ (Orff/Keetman 1977)
– „Vier Sprechstücke: ‚Duck dich, Vivos voco, Kommt Zeit, kommt Rat, Schnepfenregel‘“
Sprechstücke, die aber nicht ausdrücklich als solche bezeichnet sind:
– „Havele, havele, Hahne“
– „Abendlied (Matthias Claudius)“
– „Vor der Ernte (Martin Greif)“
– „Der Tod (Matthias Claudius)“
– „Das arm Kind (Georg Büchner)“
– „Der Froschkönig, Der Eiserne Heinrich“
– „Wiegenlied beim Mondschein zu singen (Matthias Claudius)“
In Orffs künstlerischen und pädagogischen Konzeption spielt die expressive, szenische, rhythmische > Sprache eine primäre Rolle. Im Kommentar zum 1. Band des zusammen mit Gunild Keetman verfassten „Orff-Schulwerk“ fordert er: „Am Beginn aller musikalischen Übung, der rhythmischen wie der melodischen, steht die Sprechübung“ (Orff/Keetman 1950, 161). Schon in der Frühphase seiner künstlerischen Experimente in der > Günther-Schule entwickelt Orff improvisatorisch Ausdrucksmodelle zu zeitgenössischer Lyrik (Orff 1976, 23 ff.). Im Lauf seines kompositorischen Werks tritt die rhythmische und expressive Sprache immer mehr als sein eigentliches Gestaltungsmaterial hervor. Es entstehen Bühnenstücken wie „Die Bernauerin“ und „Astutuli“, in denen der sprachliche Anteil den musikalischen bei weitem überwiegt. Seine Stücke für Sprechchor sind also Werkstattergebnisse, die zur Improvisation animieren sollen. In seinen „Sprechstudien“ (in: Orff 177 b,6ff.) erkundet Orff unterschiedliche Gestaltungsmöglichkeiten, an denen weiter gearbeitet werden soll. Ein Stück in seinen „Stücken für Sprechchor“ (Orff 1969) „stellt eine Endform vor der Musikalisierung dar, gleichsam eine Komposition ohne Töne“ (Thomas 1969, 2). Die Sprache „wird rhythmisiert oder von einem rhythmisch profilierten Klanggrund getragen“ und „durch die Fixierung ihrer metrischen Komponenten wird die dichterische Sprache leibhaft plastisch“ (ebd.). Dagegen sind die „Sieben Gedichte von Bert Brecht (Orff 1977b, 23-56) und die „Stücke für Sprechchor“ von 1969 als abgeschlossene sprachlich-musikalische Kompositionen im engeren Sinne zu verstehen. Auch diese Stücke können als Modelle für eigene Experimente mit Sprache und Schlagwerk gesehen werden.
Aspekte der Praxis:
Für die Realisierung des gesamten Materials gelten unterschiedliche Voraussetzungen. Das Basismaterial aus der „Musik für Kinder“, also die „Sprechübung“ und die in allen fünf Bänden verstreuten Texte sowie mehrere Stücke aus den „Paralipomena“ setzen elementare Fähigkeiten voraus, wie sie in den öffentlichen Schulen in der Primar- und Sekundarstufe erwartet und geschult werden können. Orffs „Stücke für Sprechchor“ (0rff 1969) und „Stücke für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk“ (Orff 1977 b) sind dagegen nur mit stimmtechnisch und künstlerisch ausgebildeten Stimmen realisierbar. Auch der Part der Schlaginstrumente erfordert geübte Spieler. Ein großes Hindernis für die Praxis stellt allerdings das seit den 1980er Jahren unter Jugendlichen und auch unter Erwachsenen zunehmend verbreitete Verhaltensmodell der „Coolness“ dar. Es erfordert für soziale Akzeptanz ein wenig nuanciertes und ausdrucksschwaches Sprechen in Verbindung mit einem „coolen“, lässigen Körpergestus, also ein Sprechen ohne ausgeprägte Artikulation, Dynamik und Nüancierung. Orffs Modell vom Sprechen kommt aber aus dem großen Theater der 1910er und 1920er Jahre und ist genau mit diesen Eigenschaften und mit intensivem Körperausdruck verbunden.
Um diese fast völlig vergessene Gattung des Orffschen Werks wieder lebendig zu machen, sollten auch andere lyrische Texte, historische und moderne, nach den Modellen Orffs erarbeitet werden. Dabei ist auch an eine szenische und tänzerische Realisierung, nach dem Prinzip „Language in Movement / Movement in Language“ (Goodkin 2002, 18) zu denken.
Literaturhinweise:
Goodkin, Doug: Play, Sing and Dance. an introduction to Orff Schulwerk. Mainz 2002
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde. Mainz 1950-54
Orff, Carl: Stücke für Sprechchor. Mainz 1969 (Orff-Schulwerk, Jugendmusik)
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Mainz 1977 (1977 a)
Orff, Carl: Stücke für Sprecher, Sprechchor und Schlagwerk. Mainz 1977 (1977 b)
Thomas, Claus: Carl Orff, Stücke für Sprechchor, in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg (Hg.): Jahrbuch III 1964-1968. Mainz 1969, 273-276 (Rezension)
Thomas, Werner: Einführung, in: Orff 1969, 2
Thomas, Werner: Einführung, in: Orff 1977a, 4-5
Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977 (= 1977b) (vor allem 135f.)
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