Sonnengesang

Der Sonnengesang des heiligen Franziskus von Assisi (Francesco d’Assisi, 1181/82-1226) mit dem Titel „Cantico di Frate Sole“ entstand 1224 im umbrischen Dialekt und gilt als das älteste Denkmal der italienischen Sprache (Thomas 1977, 141). Der Heilige hat es der Überlieferung zufolge einem Mitbruder kurz vor seinem Tod diktiert. Franziskus, der Sohn eines reichen Stoffhändlers aus Assisi, verschrieb sich kompromisslos dem von Jesus verkündetem Ideal der Armut und der Nächstenliebe und gründete die Ordensgemeinschaft der Franziskaner, die wegen ihrer asketischen Haltung und selbstgewählten Armut fratelli minori (ital. Minderbrüder) genannt wurden. Die erste hagiograhische, aber in Teilen historisch belegte Lebensbeschreibung stammt von Thomas von Celano (Karrer 1975, 85ff.) und bildet die Grundlage für den berühmten Freskenzyklus in der Oberkirche von Assisi von Giotto di Bondone. Er zeigt das Bild des Heiligen bei seiner Predigt an die Vögel, die als symbolisch für seine Liebe zu Natur und zur Schöpfung angesehen wird.

Der lateinische Titel im Orff-Schulwerk, mit dem sich Orff auf eine mittelalterliche Handschrift aus Assisi bezieht, lautet: „Incipiunt Laudes Creaturarum quas fecit Beatus Franciscus ad Laudem et Honorem Dei“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd.  5, 64). Orffs Schüler Hermann Marx übersetzt im Anhang: „Hier hebt an das Lob der Creatur, das der selige Franciscus anstimmte zu Lob und Ehre Gottes“ (ebd. 144). Diese hymnische Dichtung gehört zur literarischen Gattung der Laude und singt den Lobpreis der Schöpfung und ihres Schöpfers in acht Strophen, umrahmt von einem Initium (lat. Eröffnung) und einer abschließenden Laudatio (lat. Lobgesang). Der Titel ergibt sich aus der ersten Strophe:

 

„Laudatu si, mi signore,                                Gelobt seist du, mein Herr

cum tucte le Tue creature,                             Mit allen Deinen Geschöpfen,

spetialmente messor lo frate sole …              Besonders mit dem Bruder Sonne …

 

Der Text darf nicht als mittelalterliche Naturromantik interpretiert werden, denn in Initium und Laudatio wird dieser Gesang eindeutig auf Gott, den Schöpfer aller Dinge angestimmt, wie die zu Beginn jeder Strophe wiederholte Refrainzeile „Laudatu si, mi signore“ zeigt. Orff verstärkt diesen Aspekt, indem er dem Sonnengesang noch eigene „Jubilationes“ folgen lässt, die in ekstatischen Wiederholungen den Ruf „Laudate Dominum“ (lat. Lobet den Herrn) in hoher Lage singend wiederholen.

Orff hat sich in seinem Selbststudium der > Alten Musik mit der Musik „von Perotin bis Lassus und Schütz“ (Orff 1975, 122) befasst und zu Liedern und Melodien dieser frühen Zeit Chorsätze „in nicht harmonischem Stil“ (ebd.) entworfen, in denen mit Parallelharmonik experimentiert wurde. In diesen Stücken finden sich deshalb die im klassischen Satz der Harmonielehre verbotenen Quint- und Oktavparallelen. Die Techniken des Organum (parallele Quintklänge, bzw. paralleler Dreiklänge), des Fauxbourdon (parallele Sextakkorde), und der parallelen Quartsextakkorde der alpenländischen Musik wie z.B. im „Andachtsjodler“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 3, 108) gehören zu Orffs Kompositionstechnik. Der Orff-Forscher Werner Thomas hat diesen klanglichen > Parallelismus unter der Überschrift „Dreiklänge, Paraphonie, Mixturen“ als wichtige Technik des Elementaren Klangsatzes (> Klang, Klangsatz) im Schulwerk dargestellt (Thomas 197, 114-118). Die Komposition des „Sonnengesangs“ beruht auf dieser Satztechnik. Drei, weitgehend in parallelen Dreiklängen geführte Oberstimmen tragen die Dichtung als Rezitation über dem Bordunton d vor (> Bordun). Bei dem Wort „morte“ (lat. Tod) greift Orff zum Mittel der Reduktion. Der Bordunton wechselt auf e und auch die Rezitation erklingt nur noch auf den einen Ton e. Für die klangliche Realisierung schlägt Orff eine instrumentale Verstärkung des als Klangstütze fungierenden Borduntons vor und eine antiphonale (griech. Wechselgesang) Verteilung der Abschnitte auf zwei Chorgruppen (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 5, 144). Die Vortragsbezeichnung lautet „estatico, molto rubato“ und Orff vermerkt dazu im Anhang: „Der ekstatisch-hymnische Vortrag des Chorsatzes muss sich ganz aus dem Wort entwickeln; wechselndes, stets fließendes Zeitmaß, meist ‚quasi parlando‘!“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 5, 144). Der „Sonnengesang“ ist ein gutes Beispiel für die von Werner Thomas beschriebene „Musikalisierung von Sprache“ (Thomas 1977, 125).

 

Literaturhinweise:

Karrer, Otto (Hg.): Franz von Assisi: Legenden und Laude. Herausgegeben, eingeleitet und übersetzt von O. K. Zürich 1975

Orff, Carl, Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde., Mainz 1950-54

Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

Thomas, Werner: Musica Poetica. Orff-Schulwerk. Kommentar zur CD Produktion von Hermann Regner. BGM Music 1994. English Translation: W. Brown, M. Murray

 

Medien:

 

Musica Poetica. Orff-Schulwerk. 6 CDs in Kassette, BGM Music 1994

 

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