Schulwerkkurse

 

  1. Orff-Schulwerk „Elementare Musikübung“. Schulwerkkurse in der Weimarer Republik 1931-1933: Vom künstlerischen Konzept zum pädagogischen Versuch

 

Orff hat an der > Günther-Schule für Gymnastik und Tanz in der Jahren 1924 bis 1930 eine auf > Improvisation beruhende, vorwiegend nichtschriftliche, künstlerische Musikpraxis aufgebaut, die sich an den Ausbildungszielen der Schule orientierte. Sie war also stark körper-, bewegungs- und tanzorientiert (> Körper). Orff nannte diese Praxis zunächst in Anlehnung an die musikethnologische Literatur der Zeit > Primitive Musik, nach dem 2. Weltkrieg im Kontext des Orff-Schulwerks > „Musik für Kinder“ > Elementare Musik. In Veröffentlichungen von Paul Hindemith und Erich & Emma Doflein begegnete er dem Begriff Schulwerk und entwickelte die Idee eines eigenen Schulwerks mit dem Titel > Orff-Schulwerk. Im Sommer 1930 sprach Orff mit einem Vertreter des Verlags B. Schotts Söhne Mainz und bat ihn um den Druck einiger Probehefte. Der Verlag machte eine vorsichtige Zusage, verlangte aber Belege für die Realisierbarkeit von Orffs Konzept in der schulischen Musikpädagogik. Orff nahm deshalb Kontakte zu führenden Musikpädagogen auf, aus denen dann die Schulwerkkurse hervorgingen:

1931 Frankfurt/Oder, Musikheim, Georg Götsch

1931 Freiburg/Br., Musiklehrerseminar, Erich Doflein

1932 Stuttgart, Musikhochschule, Paul F. Scherber

1932 Berlin, Ferienkurs der Günther-Schule, Deutsche Hochschule für Leibesübungen

1932 Berlin, Seminar für Volks- und Jugendmusikpflege, Fritz Jöde

1932 Berlin, Arbeitsgemeinschaft „Primitive Musik und Instrumentalpflege“, Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht, Eberhard Preußner

1933 Bern/Schweiz, Konservatorium

Jeder dieser Kurse hatte unterschiedliche Schwerpunkte und brachte für Orff neue Erfahrungen. Anknüpfungspunkte zum ersten Kurs mit Georg Götsch ergaben sich aus dem Konzept der > Musischen Erziehung des „Musikheims“ Frankfurt/O. mit den Schwerpunkten Laienspiel, Musik und Tanz. Das entsprach einerseits Orffs Interesse am szenischen Spiel und andererseits dem Bildungsziel der > Günther-Schule. Eine Weiterarbeit mit Götsch unterblieb ebenso wie mit Fritz Jöde, da deren nationalkonservatives Musikverständnis mit Orffs Zielen unvereinbar war. Paul F. Scherber, der Initiator des Kurses in Stuttgart sah ähnlich wie Orff „im Laienmusizieren eine vorkünstlerische, jedem Menschen zugängliche Ausdrucksmöglichkeit“ (Kugler 2000, 217, vgl. auch > Laienmusik) und favorisierte als zentralen Lernbereich Metrum und Rhythmus. Als Vorgehensweise forderte Scherber das Musizieren mit Schlaginstrumenten, das „geräusch-rhythmisches Orchestermusizieren“ (ebd. 217) genannt wurde (> Perkussion). Orff hielt in Freiburg/Br. und Stuttgart einen Vortrag „Elementare Musikübung, Improvisation und Laienschulung“, veranstaltete zwei Abende mit Chorimprovisation und präsentierte sein Konzept in einem Zwiegespräch mit dem Musikpädagogen Eberhard Preußner, der auf dieser Tagung das Referat „Die Stellung des Laien in der Musik“ hielt. Die Vorträge von Orff (Orff 1932/33, in: Kugler 2002, 183-192) und Preußner erschienen im Druck. Die stärkste Beachtung in der Presse fanden die Kurse in Berlin. Der Ferienkurs der Günther-Schule in der Deutschen Hochschule für Leibesübungen richtete sich an Gymnastik- und Tanzpädagog/innen, der Kurs in dem von Jöde geleiteten Seminar wurde von Musiklehrer/innen besucht. Das Programm unter dem Titel „Musik und Bewegung. Lehrgang für rhythmisch-melodische Musikerziehung“ (Kugler 2002, 214) gibt einen Einblick in die Struktur dieser Kurse (Originalwortlaut):

9-12 Uhr: Dirgierübung, Stampf-, Klatsch- und Summchor, Klavierimprovisation, Blockflötenspiel mit und ohne Schlagwerk, Schlagwerkübung.

15-16.30 Uhr: Improvisation für großes Schlagwerk (Blockflöten, Stabspiele, Gongs, Becken, Xylophon, Trommeln, Pauken

16.30-18 Uhr: Erarbeiten der Kantate „Der gute Mensch“ von Carl Orff (für Chor und Schlagwerk).

Orffs programmatischer, die Berliner Kurse begleitender Aufsatz „Musik aus der Bewegung“ (Kugler 2002, 178-182 & Haselbach 2011, 94-103) erschien gleichzeitig im Berliner Börsen-Courier und im Fachblatt Deutsche Tonkünstler-Zeitung. Der nur vier Tage dauernde Kurs im Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht wurde für ein Fachpublikum von Musiklehrern verschiedener Schularten und des Privatunterrichts organisiert. Sogar der Musikanthropologe Curt Sachs und der Begründer der wissenschaftlichen Musikpädagogik in der Weimarer Republik, Georg Schünemann, waren bei einer Vorführung anwesend, auf der Hans Bergese die Spieltechnik auf verschiedenen Schlaginstrumenten vorführte (Kugler 2000, 223, Kugler 2002, 112). Durch diesen Kurs und den Kontakt mit Preußner war Leo Kestenberg, Ministerialrat im preußischen Kultusministerium über das neuartige musikpädagogische Konzept Orffs informiert. Versuche mit dem Orff-Schulwerk in Berliner Grundschulen kamen aber nicht mehr zustande, da Kestenberg wegen seiner jüdischen Abstammung schon 1933 von den Nationalsozialisten entlassen wurde (Orff 1976, 202f., Rösch 2019). Auf dem Kurs in Bern stand mit dem Heft > „Rhythmisch-melodische Übung“ (Orff 1933), die grundlegende Einführung in die Gruppenimprovisation der Publikation OSW > „Elementare Musikübung“ gedruckt zur Verfügung, während Hefte zur Schulung des Schlagwerkspiels und des elementaren Satzes von Gunild Keetman und Hans Bergese schon vorher erschienen waren (Kugler 2000, 259ff.). Auf dem Kurs in Bern nahm Orff sich vor, seine Schulwerk-Komzeption auf Instrumente der Kunstmusik wie Klavier (> Klavier-Übung) und Geige (> Geigenübung), auszuweiten, um eine musikpädagogische Isolierung des OSWs zu verhindern.

Ergebnisse der Schulwerkkurse 1931 – 1933:

– Praxisnahe (aber nicht schulpraktische) Einführung in die Elementare Musik durch gymnastische und tänzerische Bewegung sowie Orffs spezielle > Dirigierübung, durch > Körperperkussion, vokale Aktivitäten (auch Summen, Pfeifen), Schlaginstrumente und Blockflöten.

– Einführung in die spezielle Spieltechnik der verwendeten Instrumente und in die Grundlagen des Elementaren Instrumentalsatzes (> Bordun, > Ostinato).

– Einführung in die schriftlich aufgezeichneten musikalischen Modelle in den sog. > Roten Heften (in den USA Red Books) des OSWs „Elementare Musikübung“ im Schott-Verlag.

Probleme der Schulwerkkurse:

– Die als kulturfremd empfundenen Schlaginstrumente, damals noch Geräuschinstrumente genannt, waren kaum vorhanden und wurden aus der Günther-Schule mitgebracht. Das Spiel auf diesen Instrumenten wirkte fremdartig, quasi „exotisch“ wie das Berliner Tagblatt berichtete (Kugler 2000, 221). Orffs Assistent W. Twittenhoff registrierte, wie undiszipliniert und lärmig sich Erwachsene mit den Schlaginstrumenten gebärden (Kugler 2000, 220). Tatsächlich wurden die Schlaginstrumente aus nichtwestlichen Musikkulturen in Geräuschinstrumente verwandelt, weil die Enkulturationsbedingungen der deutschen Rezipienten nichts anderes zuließen. Auch die Basis des perkussiven Musizierens, die von Orff und Keetman ausführlich praktizierte Körperperkussion, war für die Kursteilnehmer Neuland

– Das Gestaltungsprinzip der > Improvisation (Kugler 2003, 123 ff.) bereitete den Kursteilnehmern große Schwierigkeiten, weil diese in Abhängigkeit von der Notenschrift und von kadenzierenden Klangstrukturen ausgebildet waren. In der Günther-Schule war der Unterricht „in seinem ganzen Umfang von der Improvisation“ (Orff, in: Kugler 2002) ausgegangen. Die Vermittlung des musikalischen Handwerks durch Orff und Keetman hatte in unmittelbarer Interaktion stattgefunden. Da die Kursteilnehmer jetzt aber in wenigen Tagen ohne die Werkstattpraxis in das Schulwerk eingeführt werden sollten, musste Orff > Modelle durch Notation fixieren. Der schwer auflösbare Widerspruch beruht auf der, dem Prinzip der Improvisation grundsätzlich widersprechenden Fixierung, der Ablenkung der Musizierakte auf visuelle Eindrücke und auf der rigorosen Abstraktion, die mit jeder Schrift (Assmann 1991, 181-199), also auch mit der Notenschrift einhergeht. An die Stelle des oral organisierten imitativen Körperlernens face to face, wie es für alle Traditionen des Improvisierens von substanzieller Bedeutung ist, tritt das Feste der Notation, das im Sinne von Assmann erst wieder in das Flüssige der oralen Praxis zurückverwandelt werden muss (Kugler 2020).

 

  1. Orff-Schulwerk „Musik für Kinder“. Schulwerkkurse in der Aufbauphase der Bundesrepublik 1948-1955

 

Mit der Schulfunkreihe > „Musik für Kinder“ am Bayerischen > Rundfunk begann 1948 die Entfaltung der zweiten Version der OSWs. Sie stützt sich auf den Schwerpunkt > Sprache und richtet sich an Lehrkräfte und Kinder an Grund- und Hauptschulen (Primarstufe, Sekundarstufe 1). C. Orff und G. Keetman erarbeiteten in Kooperation „eine Musik ausschließlich für Kinder, die von Kindern gespielt, gesungen, getanzt, aber auch in ähnlicher Weise von ihnen selbst erfunden werden konnte …“ (Orff 1976, 212). Die Einstudierung dieser Stücke mit Münchner Grundschulkindern übernahm Keetman, die pädagogisch von dem Münchner Rektor Rudolf Kirmeyer beraten wurde. Das Instrumentarium bestand anfangs aus Restbeständen der Günther-Schule (Fischer 2009, 47ff.), denn die Produktion der sog. > Orff-Instrumente begann erst mit der Gründung des > Studio 49 im Jahre 1949.

Im Herbst 1949 bekam Keetman von E. Preußner einen Lehrauftrag für Orff-Schulwerk-Kurse an der Akademie Mozarteum in Salzburg. Diese wöchentlichen Kurse für Kinder von bis zehn Jahren erlaubten es, „auch die Bewegungsschulung in den Unterricht einzubeziehen, was am Funk nicht durchführbar gewesen ist“ (Fischer 2009, 51). Damit war „zum ersten Mal die Möglichkeit gegeben, das Schulwerk in vollem Umfang so zu unterrichten, wie wir es uns vorstellten“ (Orff 1963, 17), also unter Einbeziehung von Bewegung und Tanz. In Zusammenarbeit mit der ehemaligen Günther-Schülerin Traude Schrattenecker, die in Salzburg ein Gymnastik- und Tanzstudio für Kinder hatte, baute Keetman nicht nur die Schulung der Kinder aus, sondern es entstanden in gemeinsamen Arbeitsprozessen Musik- und Bewegungsspiele, die als „kindlich angepasstes Pendant zu den großen Tanzwerken der ehemaligen Tanzgruppe Günther“ (Fischer 2009, 52) gesehen  werden können. Die Methodik dieser Arbeitsphase lässt sich aus Keetmans Buch „Elementaria“ (Keetman 1970) erschließen.

Mit dem Jahr 1953 begannen am Mozarteum in Salzburg eigene Kurse für die Studierenden, für die sich schon bald ausländische Studierende interessierten. Damit änderte sich die Aufgabenstellung für Keetman, denn die meisten der neuen Teilnehmer/innen waren zukünftige Musiklehrer/innen. Zu den ersten Studierenden aus dem Ausland gehörten Pionierinnen wie Doreen Hall (Kanada), Margaret Murray (Großbritannien) und Keetmans spätere Assistentin Minna Ronnefeld aus Dänemark (Regner/Ronnefeld 2004). Mit den Übersetzungen und Adaptionen des OSWs „Musik für Kinder“ durch Hall und Murray begann die internationale und interkulturelle Rezeption des Schulwerks (Regner 1984), die bis heute andauert (> Interkulturalität). Mit ihren grundlegenden musikalischen Verhaltensweisen Motion, Perkussion, Improvisation (Kugler 2003) und mit den Strukturelementen Bordun (Monoklanglichkeit), Ostinato (Pattern), Reihenform, musikalischer und tänzerischer Rhythmus tritt Orffs Elementare Musik in einen produktiven Austausch mit vielen verschiedenen Musik- und Tanzkulturen. Dabei hat die interkulturelle Dynamik des Schulwerks in vielen Ländern zu einer Wiederbesinnung auf die eigene kulturelle Identität geführt (Regner 1984, Hochschule für Musik und Darstellende Kunst 1995, Kugler 2008, 2015).

 

Literaturhinweise:

 

Assmann, Aleida: Fest und Flüssig. Anmerkungen zu einer Denkfigur, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt/M. 1991, 181-199

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Mainz 2009

Haselbach, Barbara (Hg.): Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks. Basistexte aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011 (dt.-engl.)

Hochschule für Musik und Darstellende Kunst „Mozarteum“ in Salzburg, Orff-Institut (Hg.): „Das Eigene – das Fremde – das Gemeinsame“. Musik- und Tanzerziehung als Beitrag zu einer interkulturellen Pädagogik. Salzburg 1995

Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Frankfurt/M. 2000

Kugler, Michael: Motion, Perkussion, Improvisation. Orffs Elementare Musik und ihre musikanthropologischen Grundlagen, in: Hörmann, Stefan u.a. (Hg.): In Sachen Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2003, 109-131

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924-1944. Mainz 2002

Kugler, Michael: Die interkulturelle Dimension des Orff-Schulwerks, in: Pauls, Regina (Hg.): Begegnungen mit Hermann Regner. Hommage zum 80. Geburtstag. Salzburg 2008

Kugler, Michael: Interkulturelle Aspekte des Orff-Schulwerks, in: Orff-Schulwerk heute 93, Winter 2015, 52-59

Kugler, Michael: Carl Orffs und Gunild Keetmans künstlerisch-pädagogisches Erbe, Vortrag beim Online-Meeting des Internationalen Orff-Schulwerk Forum Salzburg, 6.-8.Juli 2020, Skript für Teilnehmer

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl: Das Schulwerk. Rückblick und Ausblick, in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg 1963, 13-20

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976

Regner, Hermann: Musik für Kinder – Music for children – Musique pour enfants. Anmerkungen zur Rezeption und Adaption des Orff-Schulwerks in anderen Ländern, in: Musik und Bildung 18 (1984), H. 12, 784-791

Regner, Hermann/Ronnefeld, Minna (Hg.): Gunild Keetman. Ein Leben für Musik und Bewegung. Mainz 2004 (dt.-engl.)

Rösch, Thomas: Leo Kestenberg und Carl Orff, in: Brusniak, Friedrich u.a. (Hg.): Würzburger Beiträge zur Kestenberg-Forschung. Weikersheim 2019, 41-70)

 

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Bearbeitet am 17.2.2023