Pentatonik

Unter den weltweit verbreiteten pentatonischen (griech. pente = fünf) Tonsystemen unterscheidet man die hemitonische (mit Halbtönen) und die anhemitonische (ohne Halbtöne) Pentatonik. In der europäischen Volksmusik dominiert die halbtonlose Pentatonik mit fünf Tönen innerhalb einer Oktave, von denen jede Stufe den Ausgangspunkt eines > Modus, also einer eigenständigen Skala bilden kann (Dahlhaus 1998). In der mitteleuropäischen Volksmusik und in den Übernahmen in die Musikpädagogik dominiert die Dur-Pentatonik mit der Reihe c-d-e-g-a.

In der Moderne greifen Komponisten auf ältere Satztechniken und ältere Tonsysteme wie Pentatonik und Modi zurück. Das gilt vor allem für Claude Debussy, bei dem „Verfahren mit modalen, pentatonischen und insbesondere Ganztonskalen zu … Gegentypen zur Dur-Moll-Harmonik führten“ (Danuser 1992, 49). Bekanntlich spielte Debussys Musik die entscheidende Rolle bei Orffs Begegnung mit der Moderne. Aus der intensiven Beschäftigung mit Debussy, nicht zuletzt mit dem „Prélude à l’après-midi d’un faune“ (Orff 1975, 45) geht die Orchesterkomposition „Tanzende Faune. Ein Orchesterspiel“ (1914) hervor (Thomas 1975, 117). Im Rahmen des Folklorismus ist es besonders Béla Bartók, bei dem die Verarbeitung neuer, aus seiner ethnomusikologischen Feldforschung gewonnen, musikalischen Strukturen das kompositorische Werk geprägt hat. Von seiner Arbeit in Siebenbürgen (Rumänien) kehrte er „mit einer solchen Menge pentatonischer Melodien zurück, dass diese … die grundlegende Bedeutung der, bis dahin unbeachtet gebliebenen Tonleiter klar erkennen ließen“ (Z. Kodály 1972, 86). Doug Goodkin von der Orff School in San Francisco, der sich weltweit um das Studium der Musik- und Tanzpraxis in verschiedenen Kulturen bemüht hat, bezieht sich seinen pädagogischen Arbeiten zum Orff-Schulwerk nicht nur auf die Pentatonik in den Volksmusikkulturen der USA sondern durchweg auf eine interkulturelle Perspektive (Goodkin 2002, 141). Ulrike Meyerholz holt mit ihrem Buch „Mit fünf Tönen um die Welt“ (Meyerholz 2021) die Pentatonik in die Unterrichtspraxis zurück.

Orffs > Musikbegriff steht unter dem Einfluss des Ethnomusikologen Curt Sachs (Weinbuch 2010, 54ff.). Er nennt in seinem Buch „Vergleichende Musikwissenschaft“, das Orff nachweislich studiert hat, die anhemitonische Pentatonik „das vielleicht älteste System“ (Sachs 1930/1959, 27). Weinbuch weist aus neuerer Sicht (Weinbuch 2010, 130f.) auf die „weltweite Verbreitung der Pentatonik“ hin. Diese verschiedenen Erscheinungsformen der Pentatonik unterscheiden sich aber deutlich, sodass die von Orff ins Schulwerk eingebrachte anhemitonische Pentatonik europäischer Prägung nicht ohne weiteres als interkulturelle Norm betrachtet werden kann. Orffs Pentatonik ist „auch nicht als Anleihe an außereuropäische Kulturen zu verstehen“ (Weinbuch 2010, 132) sondern knüpft an die alte Tradition europäischen und vor allem deutschen Kinderliedguts an, das Orff ausführlich in der volkskundlichen Sammlung von Franz Magnus Böhme (1897) studiert hat. Orff kannte auch die musikpsychologische Studie von Fritz Brehmer (1925), in der anhand des, in den 1920er Jahren von Kindern gesungenem Liedgut die Entfaltung des Tonraums von der Rufterz über die Dreitonformel zur pentatonischen Tonreihe nachgewiesen wird, die für den ersten Band des OSWs > „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950) die Grundlage bildet. Das Material beruht auf einer Dur-Pentatonik auf C. Das gilt auch für den dritten Teil dieses ersten Bandes, die instrumentalen „Spielstücke“ von G. Keetman. Der öfter gegen diese Musik erhobene Vorwurf der Regressivität trifft mit Einschränkungen nur die Vokalstücke, nicht aber den musikalischen Satz. Die pentatonischen Modelle „sind keine Rückgriffe auf alte Formen, denn pentatonische Sätze dieser Art hat es in der europäischen Musik nie gegeben. Orffs Idee, nicht nur Melodien, sondern ganze Sätze im Fünftonraum zu komponieren war neu und ohne Vorbild in der abendländischen Musikgeschichte“ (Keller 1988, 380). Es gibt zwei wichtige musikpädagogische Argumente für den Beginn im Fünftonraum und für die Improvisation. Orffs Konzeption der „Musik für Kinder“ plant eine systematische Einführung in die Diatonik durch eine Einübung vom Dreitonraum zur Dur-Pentatonik und zu dominantischen Strukturen einerseits und von Stufenklängen zu den, Moll angenäherten Modi. Die musikpädagogische Argumentation betont die für Orff so wichtige Abwendung von der übermächtigen Dur-Moll-Tonalität und die damit verbundene Befreiung der kindlichen (und Jugendlichen) Kreativität. Dabei ist zu berücksichtigen, dass außer der Kunstmusik auch große Teile der populären Musik bis heute (2022) von den abgenützten kadenzierenden Schemata geformt sind, die dem kindlichen Musik-Erfinden keinen alternativen Spielraum lassen. Ein weiteres musikpädagogisches Argument für die Pentatonik betont, dass durch das Fehlen von Halbtonschritten eine, weitgehend als konsonant empfundene Klanglichkeit entsteht, die vor allem auf entsprechend präparierten Stabspielen jedem die aktive Teilnahme an einer Gruppenimprovisation ermöglicht (Keller 1963, 44). Das betrifft besonders die Zielperspektive eines inklusiven Musikunterrichts, der allen die Teilnahme an musikalischer Gestaltung ermöglichen will. Die Pentatonik öffnet den Weg für einfache Erfindungsübungen, ohne dass ständig die Strukturzwänge der Kadenzharmonik das spontane Produzieren behindern. Schließlich ermöglicht die Pentatonik in Verbindung mit statischen > Bordunklängen die Verbindung der Musikpraxis mit der Praxis der Meditation. Als Material für Experimente bieten sich G. Keetmans pentatonische Modelle „Geschichtete Ostinati“ (Keetman 1970, 78ff. und Orff/Keetman 1977, 64ff.) an.

 

Literaturhinweise:

 

Böhme, Franz Magnus: Deutsches Kinderlied und Kinderspiel. Leipzig 1895

Brehmer, Fritz: Melodieauffassung und melodische Begabung des Kindes. Leipzig 1925

Dahlhaus, Carl: Tonsysteme, in: MGG, 2.neubearb. Ausgabe, Sachteil Bd. 9, Kassel 1998, Sp. 638-646

Danuser, Hermann: Die Musik des 20. Jahrhunderts. Laaber 1984 (Neues Handbuch der Musikwissenschaft, Bd. 7)

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Goodkin, Doug: Play, Sing and Dance. An Introduction to Orff-Schulwerk. New York, Mainz 2002

Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970

Keller, Wilhelm: Einführung in „Musik für Kinder“. Mainz 1963

Keller, Wilhelm: Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk? in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2,1. München 1988, 375-389

Kodály, Zoltán: Bartók als Folklorist, in: Szabolcsi, Bence (Hg.): Béla Bartók. Weg und Werk, Schriften und Briefe. Kassel 1972, 83-104

Lindlar, Heinrich: Lübbes Bartók Lexikon. Bergisch Gladbach 1984

Meyerholz, Ulrike: Mit fünf Tönen um die Welt. Eine Erlebnisreise mit 46 pentatonischen Liedern. Boppard 2021

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Orff-Schulwerk. Musik für Kinder. Bd. 1, Mainz 1950

Orff, Carl: Erinnerung, in: Dokumentation Carl Orff und sein Werk Bd. 1. Tutzing 1975, 9-251

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Mainz 1977

Sachs, Curt: Vergleichende Musikwissenschaft (1930). Heidelberg 1959 (2. neubearb. Aufl.)

Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010

 

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Bearb. am 18.4.2023