Die Sammlung „Paralipomena“ erschien 1977 als später Nachtrag zum Orff-Schulwerk > „Musik für Kinder“. Der griechische Titel weist auf Orffs Begeisterung für die Sprache der griechischen Antike hin. Das Vorwort lautet:
„Der Titel bedeutet ‚Ausgelassenes, Übergangenes‘, enthält aber nicht nur Nachträge, sondern zeigt zugleich eine Ausweitung des Horizonts. Zur Zeit des Erscheinens der ersten Bände ‚Musik für Kinder‘ waren weder die klanglich so wichtigen Metallophone noch das Bassxylophon vorhanden. Sie wurden erst später den Maendlerschen Prototypen der Vorkriegszeit nachgebaut und konnten nur in den letzten Bänden Verwendung finden. … In die Schallplattenreihe ‚Musica poetica‘ wurde eine Anzahl neuer Stücke aufgenommen, die in ‚Paralipomena‘ erstmals im Druck erscheinen. Ferner dokumentieren Neuinstrumentierungen und klangliche Erweiterungen von Stücken aus ‚Musik für Kinder‘ erneut die Ausbaufähigkeit des Modells. Bei diesem klanglichen Ausbau wurden auch bis dahin nicht verwendete Instrumente einbezogen: Trompeten, Posaunen, Streichbass, Laute, Liedharfe, Cembalo und die wieder neugebauten alten Holzblasinstrumente wie Sordun, Krummhorn u.a. Schließlich werden die in ‚Musik für Kinder‘ ausführlich dargestellten Modi: Aeolisch, Dorisch und Phrygisch durch Beispiele in lydischer und mixlydischer Tonart ergänzt. Die Sammlung ‚Paralipomena‘, mit Beispielen aus allen Bereichen und Stufen des Schulwerks, kann auch als Querschnitt durch das ganze Werk betrachtet werden.“
(vgl. dazu > Xylophon, > „Musik für Kinder“, > „Musica poetica“, > Modi, > Modell)
Die Sammlung hat drei Teile und die Einzeltitel tragen als Autorenbezeichnung C.O. oder G.K. (Carl Orff, Gunild Keetman). Diese Zuordnung zu den beiden Autoren wurde bei der Schallplattenproduktion „Musica Poetica. Orff-Schulwerk“ eingeführt, um die Tantiemen verteilen zu können.
Inhaltliche Beschreibung:
- Sprechstücke
– Kurze Sprichwörter wie z.B. „Kommt Zeit, kommt Rat“
– Zwei Spruchdichtungen aus dem > Märchen „Der Froschkönig oder Der Eiserne Heinrich“ der Brüder Grimm sollen über einem gleichmäßig fließenden Klanggrund rhythmisch frei gesprochen werden.
– Gedichte von Matthias Claudius, Martin Greif, Georg Büchner und aus „Des Knaben Wunderhorn“ werden ebenfalls rezitiert, aber die dramatische Substanz wird durch klangliche und rhythmische Motive der Begleitinstrumente herausgearbeitet.
- Lieder mit instrumentalem Satz
Altes Sprachgut erscheint wie im Bd. 1 der „Musik für Kinder“ mit pentatonischen Melodien und pentatonischem Satz. Dazu kommen zwei alte Balladen mit neuen Melodien und ein geistliches Weihnachtslied mit Originalmelodie aus dem „Moosburger Cantionale“, einer mittelalterlichen Handschrift von 1360. Das Lied „Es geht ein dunckle Wolken rein“ mit der Originalmelodie im dorischen Modus aus dem 16. Jahrhundert ist mit Parallelharmonik über einem > Malagueña Bass realisiert.
- Chorsätze
„Te lucis ante terminum“ und „Tres magi“ (zum Dreikönigsfest) sind Sätze für vier gleiche Stimmen im parallelharmonischen Satz (> Parallelharmonik). Das Gedicht „Der Mensch“ (Matthias Claudius) ist im engen Satz für vierstimmigen gemischten Chor vertont, das Lied „Das himmlische Leben“ für alternierende Knaben- und Männerstimmen.
- Instrumentalstücke
– G. Keetmans „Intrada“ für Trompeten und Pauken bringt vier Abschnitte in archaischer I-V-Harmonik, ebenso C. Orffs „Bläserstück“ im parallelharmonischen Satz mit Sextakkorden und leeren Quinten. Die Sätze bieten sich als Material für Arrangements beim szenischen Spiel an.
– „Drei kleine Nachspiele“, „Zum Einschlafen zu singen“ und „Lydisches Flötenstück“ von G. Keetman.
– Drei Beispiele für „Geschichtete Ostinati“ (> Ostinato) von Keetman in C-Pentatonik, D-Pentatonik und Lydisch stellen einen wichtigen Beitrag zu Keetmans Improvisationspraxis dar. Der Begriff Geschichtete Ostinati taucht zum ersten Mal in ihrer Handwerkslehre „Elementaria“ (Keetman 1970, 78-85) auf. In fünf Beispielen sind jeweils „viele Ostinati zu einem großen Klanggebäude übereinandergeschichtet“ (ebd. 78), ein Strukturbeispiel für den Elementaren > Klangsatz. Mit bis zu elf Instrumenten werden in Partituranordnung die unterschiedlichsten Spielfiguren in C-Pentatonik zu jeweils zwei Takten mit Hinweisen zur Ausführung zusammengestellt.
Die „Paralipomena“ sind zwar unter dem Obertitel „Orff-Schulwerk. Musik für Kinder“ erschienen, stellen aber Kompositionen und Lehrstücke für den Elementaren Satz und die Sprachgestaltung dar. Ihr anspruchsvoller Instrumentalsatz ist mit Kindern nicht zu realisieren, sondern verlangt Jugendliche oder Erwachsene, die über fortgeschrittene Fähigkeiten auf Schlaginstrumenten verfügen. Wilhelm Keller hat dieses Problem in seinem Aufsatz „Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk?“ (Keller 1988, 375) thematisiert. Wie auch die Stücke im 4. und 5. Band der „Musik für Kinder“ sind viele Stücke geeignet, um mit Schüler/innen der Sekundarstufe II bzw. mit Studierenden als Musterbeispiele für den musikalischen Satz von Orff und Keetman aufgeführt zu werden und andererseits als Basismaterial für Neugestaltungen durch Improvisation zu dienen.
Literaturhinweise:
Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970
Keller, Wilhelm: Orffs musica poetica: Schulwerk oder Kunstwerk? in: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 2/1. München 1988, 375-389
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Orff-Schulwerk. Musik für Kinder. Mainz 1977
(Ausführlicher Kommentar von Werner Thomas)
Medien:
Carl Orff/Gunild Keetman: Musica Poetica. Orff-Schulwerk. Compilation aus der Produktion von 1963-1975. BMG Music. Compact Disc 1-6 in zwei Kassetten mit Booklet (dt. engl.). Einleitung: Hermann Regner. Kommentar: Werner Thomas
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