Orffs Musikbegriff

Im Umgang mit historischer Kunstmusik (sog. Klassik) und ihrer Darstellung durch die Notenschrift ist die Vorstellung verbreitet, Musik sei „ein quasi Gegenstand, der nach bewussten Regeln immer wieder zu rekonstruieren ist“ (Klausmeier 1978, S. 19). Auch die analogen und digitalen Tonträger erwecken den falschen Eindruck des Festen, Abgeschlossenen und damit unverändert Wiederholbaren. Für das Verstehen der Musik als Ausdrucksmedium hilft die Einsicht des Dirigenten Sergiu Celibidache, „dass Musik nicht ist, sondern werden muss, dass sie entstehen muss in uns“ (Weiler 1993, 298). Diese Vorstellung ist eng verwandt mit Orffs Bemerkung „Die Musik fängt im Menschen an, und so die Unterweisung“ (Orff 1931/32, in: Kugler 2002, 173), der den Anfang eines Gedichts des expressionistischen Dichters Franz Werfel „Die Welt fängt im Menschen an“ paraphrasiert. Musik wird als Zeitkunst gesehen, die von ihrem Wesen her dem berühmten Fragment „ta panta rhei“ (griech.: alles befindet sich in einem fließenden Zustand) des vorsokratischen Philosophen Heraklit entspricht. Musik ist Bewegung, sie wird durch Bewegungen hervorgebracht und sie löst sichtbare und innere Bewegungen („Emotionen“) aus.  Musik im eigentlichen Sinne existiert also nur als unmittelbares Hervorbringen durch einen jeweils einmaligen Akt des vokalen oder instrumentalen Musikmachens. Jede Wiedergabe von Musik durch einen Lautsprecher erzeugt einen technisch aufbereiteten Sound, dem das Moment der Unmittelbarkeit genommen ist. Nicht umsonst steht auch heute noch sowohl in Klassik wie in populärer Musik das Live-Erlebnis an erster Stelle. Das gilt vor allem für Musik, die ihr Wesen aus dem Improvisieren bezieht wie der Jazz. Orffs > Elementare Musik entsteht in der > Günther-Schule durch Improvisation, also durch eine primäre Praxis, die der schriftlichen Aufzeichnung nicht bedarf.

Musik ist mit dem Tanz „verschwistert“ (Friedrich Nietzsche). Auch der Tanz ist eine Zeitkunst, die wie die Musik durch körperliche Ausdrucksbewegungen hervorgebracht wird. Beide Künste bedienen sich eines kulturell tradierten Repertoires, das meist Variantenbildung durch Improvisation zulässt. In beiden Künsten lässt sich das Wesentliche nicht exakt fixieren, was die schriftliche Aufzeichnung zu einem problematischen Vorhaben macht. Die schriftliche Kodierung kann nur von dem entschlüsselt werden, der die nichtschriftlichen, expressiven Anteile bereits face-to-face gelernt und gespeichert hat. Dass das beim Tanz ein noch größeres Problem darstellt als bei der Musik, belegen Studien über Tanzschriften (z.B. Jeschke 1983). In der Günther-Schule ergab sich die wohl einmalige Konstellation, dass die Zeit- und Bewegungskünste Musik und Tanz als Improvisation realisiert und unmittelbar auf einander bezogen wurden. Dem entspricht sowohl bei Dorothee Günther wie bei Carl Orff ein Tanz- bzw. Musikbegriff, der dem Hervorbringen den primären Rang vor der Notation zugesteht. Dieser Musikbegriff ist motional, denn er sieht Musik immer im Bewegungskontext von gestischer oder tänzerischer Bewegung. Nur ein solcher Musikbegriff trifft überhaupt das Wesen von Musik, wie Teresa Leonhardmair in einer umfassenden Studie gezeigt hat (Leonhardmair 2014).

Die Notenschrift der abendländischen Kunstmusik hält bis zum Ende des Generalbasszeitalters nur den Satz fest und zwar im Hinblick auf Tonhöhe und Tondauer, zuweilen ergänzt durch Hinweise auf Tempo und Artikulation. Sie ist deshalb eine Anweisung zum musikalischen Handeln, zur „Musik als Klangrede“ (Harnoncourt 1985). Sie ermöglicht Musik, aber dokumentiert keine Musik. Alle Merkmale des musikalischen Hervorbringens wie Metrik, Agogik, Dynamik, Phrasierung, Tongestaltung und Klangfarbe, die das Ganze überhaupt erst zur Musik machen, werden durch historisch bedingte Lernprozesse vermittelt, die im Rahmen einer sozialhistorisch geformten Körperbewegtheit übertragen wurden (Rittner 1991). Das gilt besonders für die verschiedenen Tanzmusikarten von der Renaissance bis in die Romantik, die ohne ein Erfahrungswissen über die Bewegungspraxis nicht adäquat realisierbar sind. Das Ergebnis ist immer ein Bewegungsverhalten, das über den Körper des 20./21. Jahrhunderts mit seinen durch den Zivilisationsprozess disziplinierten Sinnen rekonstruiert wird. Von daher ist die Vorstellung einer authentischen Aufführungspraxis fragwürdig.

Mit Beethovens Werk dringen immer mehr Zeichen für die expressiven Aspekte der Musik in die Niederschrift von Musik ein. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wandelt sich das Musikverständnis grundlegend. In Verbindung mit emotionalen und malerischen Inhalten entsteht eine Musik, deren Notenbild durch viele Zusatzzeichen immer mehr den Klang der Musik abbildet (wie z.B. bei Richard Wagner, Claude Debussy oder Richard Strauss). Sie will Stimmungen, Gefühle, innere Zustände darstellen, die durch den Hörer nachvollzogen werden sollen. Dieses Ziel übernimmt im 20. Jahrhundert die Musik zum Tonfilm, deren syntaktische, semantische und mediatisierende Funktion der psychologischen Steuerung der Filmrezipienten dient (Maas 1993). Daran hat sich auch im Fernsehen nichts geändert. Die populäre Musik ist seit den 1920er Jahren Teil dieser Entwicklung. Durch die Tonträger wird Musik mechanisch wiederholbar und die elektronische Studiotechnik verwandelt Musik zum Sound. Man kann Musik hören ohne die hervorbringenden Bewegungen der Musiker/innen sowie die begleitende Mimik und Gestik, also den unverzichtbaren motionalen Kontext wahrzunehmen.

Seit den 1920er Jahren erschließt die Musikwissenschaft zunehmend Notentexte historischer Musikwelten des 11. bis 16. Jahrhunderts mit ihren sprachrhythmischen und mathematischen Proportionen der Zeitdauer und mit den modal geprägten Klangstrukturen. Es zeigt sich, dass diese Notentexte ohne die Quellen zur Aufführungspraxis, die etwas über die nicht schriftlich fixierten Aspekte der Musik mitteilen, keine sinngemäße Aufführung zulassen. Ein neuer Aspekt kommt durch die Erforschung oral tradierter, nichtwestlicher Musik durch die Musikethnologie hinzu. Diese Musiken (zur Pluralform: Baumann 2006, 7) lassen sich nur mit Hilfe eines komplizierten Schriftbilds darstellen, das das Studium der Tonaufzeichnung ergänzen kann, aus dem aber die reale Musik nicht rekonstruierbar ist. Dazu kommt die Einsicht, dass auch oral tradierte Musik quasi komponierte Strukturen hat und dass > Improvisation nur in einem definierten Rahmen möglich ist.

In diesem historischen Kontext bewegt sich Orff, als er ab 1920 zusammen mit anderen jungen Komponisten in seiner Münchner Wohnung ein musikwissenschaftliches Selbststudium betreibt, das den Schwerpunkt auf die > Alte Musik zwischen Organum und Vokalpolyphonie legt (Orff 1975). 1921 trifft er in Berlin auf den Musikanthropologen Curt Sachs und bekommt von diesem den Rat, sich mit Monteverdi zu befassen. Einige Jahre später trifft er Sachs erneut, der ihm in der Staatlichen Musikinstrumentensammlung die zahlreichen nichtwestlichen Perkussionsinstrumente zeigt und ihn auf die enge Beziehung von > Perkussion und Tanz hinweist (Weinbuch 2010, Rösch 2022). Von diesem Besuch, der Orffs Musikbegriff nachhaltig geprägt hat, nimmt er außer der Bemerkung „Am Anfang war die Trommel“ die ausführlichen Erläuterungen von Sachs zu den Instrumenten und zum Thema Musik und Tanz mit (Orff 1976, 14f.). Orff vertieft dieses Wissen dann als Lehrer an der Günther-Schule durch musikethnologische > Schallplatten und Literatur und legt für die Unterrichtspraxis ein umfangreiches Schlaginstrumentarium an. Mit Tanz und tänzerischer Musik ist Orff in der Günther-Schule täglich konfrontiert und so ergibt sich der Einfluss des Tanzes auf seine Musik fast zwangsläufig. Damit wird der Grund für ein Musikkonzept gelegt, das Orff > Elementare Musik nennt und das nicht nur den Schaffensprozess der > Improvisation in der Günther-Schule prägt sondern auch sein kompositorisches Werk. Man verfehlt deshalb Orffs ästhetische Ziele, wenn man versucht, „seine Elementare Musik in den stilistischen Rahmen der europäischen Kunstmusik zu stellen“ (Kugler 2015, 53). Der Musikwissenschaftler Horst Leuchtmann deutet deshalb Orffs Komponieren richtig als „Ausstieg aus der Musik der Zeit“ (Leuchtmann 1988, 344). Die Beschäftigung mit dem Musiktheater Monteverdis rückt Orffs dramaturgische Vorstellung in die Richtung eines sprachorientierten, rhythmischen, monophonen Musiktheaters. Dieser Vorgang beginnt schon in seinen Kantaten nach Texten von Bert Brecht und Franz Werfel (Thomas 1975, 187-238) und vollendet sich in den Griechendramen. Es entsteht ein Musiktheaterstil, der „sich in steigendem Maße um die Deutung und Erhöhung des Wortes, um dessen Verklanglichung“ bemüht (Leuchtmann 1988, 343). Als dann nach dem 2. Weltkrieg Keetman und Orff mit dem Schulwerk > „Musik für Kinder“ beginnen, existiert die Günther-Schule nicht mehr und damit fällt der mitbestimmende Faktor des Tanzes weg.  So begegnet man ab 1948 im Orff-Schulwerk > „Musik für Kinder“ einer weniger vom Tanz als von Sprache und Szene geprägter Musikvorstellung. Da der Tanz auch im Schriftbild der Publikation nicht repräsentiert ist, kommt es oft zu einer reduzierten Praxis, obwohl Orff immer wieder auf die Notwendigkeit des Bewegungsaspekts hingewiesen hat.

Auf der einen Seite steht der Einfluss der frühen abendländischen Musik und das Musiktheater Monteverdis, auf der anderen Seite oral tradierte nichtwestliche Musiken. Die Arbeit der Ethnologin Isabel Weinbuch reflektiert ausführlich das Verhältnis von Orffs Elementarer Musik und afrikanischen Musikkonzepten sowie die enge Bindung von Musik und Bewegung aus musikethnologischer Sicht (Weinbuch 2010, 82ff., 87ff.). Die Substanz des Orffschen Musikbegriffs im Schulwerk sind Sprach- und Bewegungsrhythmen, modale Tonalität, monophone Klangstrukturen (> Bordun), Improvisation und ein interaktiver Handlungsrahmen. Der Entstehungsprozess im Schulwerk setzt schriftlose improvisatorische Prozesse voraus. Deshalb ist bei allen notierten Stücken von Orff und Keetman zu prüfen, ob es sich um eine Nachschrift einer Improvisation mit Modellcharakter für weitere Improvisationen handelt oder ob sich Improvisation und schriftlich fixierter Satz zu einer Komposition verdichtet haben. Diese haben Kunstwerkcharakter und sollten dazu genützt werden, ein quasi klassisches Stadium des Schulwerks kennen zu lernen und den ursprünglichen Elementaren Stil zu studieren.

 

Literaturhinweise:

 

Baumann, Max Peter: Musik im interkulturellen Kontext. Nordhausen 2006

Harnoncourt, Nikolaus: Musik als Klangrede. Kassel 1985

Jeschke, Claudia: Tanzschriften. Ihre Geschichte und ihre Methode. Bad Reichenhall 1983

Klausmeier, Friedrich: Die Lust, sich musikalisch auszudrücken. Reinbek 1978

Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Bewegungsorientierte Konzeptionen der Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2000

Kugler, Michael: Interkulturelle Aspekte des Orff-Schulwerks, in: Orff-Schulwerk heute 93, Winter 2015, 52-56

Leonhardmair, Teresa: Bewegung in der Musik. Eine transdisziplinäre Perspektive auf ein musikimmanentes Phänomen. Bielefeld 2014

Leuchtmann, Horst: Carl Orff oder Der Ausstieg aus der Musik der Zeit, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste, Jahrbuch 2/1. München 1988, 337-353

Maas, Georg: Filmmusik, in: Bruhn, Herbert/Oerter, Rolf/Rösing, Helmut (Hg.): Musikpsychologie. Ein Handbuch. Reinbek 1993, 203-208

Orff, Carl: Lehrjahre bei den alten Meistern. Tutzing 1975 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 2)

Rittner, Volker: Körper und Körpererfahrung in kulturhistorisch-gesellschaftlicher Sicht, in: Bielefeld, Jürgen (Hg.): Körpererfahrung. Grundlagen menschlichen Bewegungsverhaltens. Göttingen 1991 (2. Aufl.), 125-155

Rösch, Thomas: Curt Sachs und Carl Orff – Einflüsse der Wissenschaft auf die Musik, in: Kalcher, Anna Maria (Hg.): Orff im Wandel der Zeit. Kunst trifft Pädagogik. Wiesbaden 2022, 83-104

Thomas, Werner: Der Weg zum Werk, in: Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 1. Tutzing 1975, 73-254

Weiler, Klaus: Celibidache. Musiker und Philosoph. München 1993

Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010

 

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