Orff-Schulwerk (Begriff)

  1. Begriffsgeschichte

Orff hat den Titel „Orff-Schulwerk“ für eine geplante Veröffentlichung 1930 bei seinen ersten Verhandlungen mit dem Schott-Verlag in Mainz ins Spiel gebracht (Orff 1976, 114). Der Titel Schulwerk war bei Schott bereits durch das „Schulwerk für Instrumentalzusammenspiel“ op. 44 (1927) von Paul Hindemith und das „Geigen-Schulwerk“ von Erich und Elma Doflein. Letzeres befand sich in Vorbereitung und erschien 1932. Orff schrieb dafür kurze Stücke (Doflein 1932), die sich in seiner > Geigenübung (Orff 1934, H. 2) wiederfinden. Den Begriff Werk hat Orff in der Kombination „Werk-Buch“ für die „Werfel-Kantaten“ 1929/30 und die „Chorsätze nach Texten von Bert Brecht“ 1930/31 (Thomas 1975, 187-211, 212-283) verwendet. Die Titel „Werk-Buch“ und „Schulwerk“ stehen im geistigen Umfeld der Bauhaus-Idee, als deren Merkmale „das Ineinanderwirken von Kunst und Handwerk, die Faszination durch die Materialien der Gestaltung und ihre sachgerechte Formung und Verwendung“ (Thomas 1977, 45) gelten. Diese Transparenz des künstlerischen Arbeitens in einer Werkstattarbeit, in der Erfahrungswissen aus dem experimentellen Erkunden des Materials hervorgeht, bildet die Basis des Unterrichts am > Bauhaus (Wick 1982). Dofleins Schulwerk bringt von Anfang an kleine, überschaubare, Stücke, die kompositorisch die Nähe zur Moderne wahren, so z.B. von B. Bartók, P. Hindemith und C. Orff.

In der > Günther-Schule, die als Orffs kompositorische Werkstatt gilt (Thomas 1977, 126-132), geht es im Gegensatz zu Dofleins Schulwerk um das unmittelbare improvisatorische, also noch vor der Notation liegende Erkunden der Handlungsmöglichkeiten und des Materials. Die entstandenen modellhafte Stücke im Sinne der > Elementaren Musik sollen improvisierend variiert, erweitert und neu gestaltet werden. Die Notentexte der > „Elementaren Musikübung“ und ebenso der > „Musik für Kinder“ sind als Materialsammlung für künstlerisches Handeln zu verstehen. Mit dieser Intention wurden Teile der > „Rhythmisch-melodischen Übung“ (Orff 1933) später in den 1. und 5. Band der Neukonzeption > „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950, Bd. 1, 68-110, Bd. 4, 79-100) eingefügt. Die „Rhythmisch-melodische Übung“ ist als eine Art Baukasten für den Einstieg in das Improvisieren für Lehrer/innen gedacht, die in ihrer musikalischen Sozialisation nur das Reproduzieren von notierten Stücken gelernt haben. Orffs nahm in Unkenntnis der schulischen Praxis (Orff 1963/2011, 157) an, die Lehrer/innen würden mit seinem fragmentarischen Material kreativ arbeiten können. Das erwies sich als Irrtum. Der Publikation fehlen Einschübe, die in jedem der fünf Bände exemplarisch den Einstieg in den Gestaltungsprozess demonstrieren. Bewegung und Tanz werden ausgeblendet, obwohl sie durch Tanzbeschreibungen, Hinweise zur Bewegungsimprovisation, Skizzen und Bilder realisierbar gewesen wäre.

Mit der Produktion der „Musik für Kinder“ für die Schulfunkreihe am Bayerischen > Rundfunk (Orff 1969, 20 Jahre) unter der Mitarbeit von Grundschulkindern und dem Münchener Rektor Rudolf Kirmeyer (Orff 1963/2011, 147) verlagerte sich die Bedeutung des Begriffs Schulwerk zunehmend auf die Anwendung im Klassenunterricht öffentlicher Schulen. Der Bewegungsaspekt trat bis auf die > Körperperkussion zurück. Unter der Bezeichnung Orff-Schulwerk verstand man in pädagogischen Kreisen jetzt eine methodische Konzeption für den Musikunterricht im engeren Sinne. Die für ein künstlerisches Arbeiten gedachte offene Konzeption wurde in eine musikdidaktische Konzeption umgedeutet. Keetman holte auf ihren Schulwerkkursen ab 1949 am Mozarteum in Salzburg mit ihrer > Musik- und Bewegungserziehung die Aspekte der Bewegung und der Improvisation in die Schulwerkkonzeption zurück. Ausländische Studierende begannen damit, einzelne Bände der „Musik für Kinder“ in andere Sprachen zu übersetzen und an die jeweiligen kulturellen Voraussetzungen anzupassen. Sie trugen das OSW als die von Keetman vermittelte Musik- und Bewegungserziehung in alle Welt (Fischer 2009, 58ff.).

Als 1963 die Dokumentation des OSWs auf 10 Langspielplatten der Firma Harmonia Mundi begann, ging man auf die Suche nach einem Titel, der den zu Fehlinterpretationen führenden Wortbestandteil -Schul- vermeidet. Der von Keller (1985, 19) vorgeschlagene Begriff  > „Musica Poetica“ fand als Titel Orffs Zustimmung, denn er wies „auf die Bedeutung des Wortes, der Sprache, der Poesie im Schulwerk hin“ (ebd.). Der neue Titel wollte „die Intention verstärken, dass es nicht um ein Nachspielen, ein Imitieren der Klangbeispiele gehen darf“, sondern dass es sich wiederum um Modelle handelt. Diese können auch Objekte des Studiums sein, sollen aber eigentlich „zum Verändern, Weiterführen und Selbstgestalten herausfordern“ (Thomas 1994, 4), wie W. Thomas in seinen Kommentar (Thomas1977) betont.

 

  1. Inhaltliche Bestimmung

2.1 Tradierung: Konzeption und Publikation

Wie die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assmann gezeigt hat, benötigt jeder Bereich einer Kultur Erinnerung und Gedächtnis, um Errungenschaften festzuhalten und an die nächste Generation weiterzugeben. Diese Sicherung der Tradition durch mündliche oder schriftliche Techniken gilt nicht nur für Religion, Wirtschaft, Recht u.a. sondern auch für die Künste wie Dichtung, Musik und Tanz. Für das Wesen der Tradierung verwendet Assmann die metaphorische Denkfigur Flüssig und Fest. Sie erklärt das am Übergang von der mündlichen Dichtkunst zur schriftlich fixierten Literatur. Jedes Werk oraler Dichtung entsteht bei der Ausführung neu, die Medien sind nicht ausdifferenziert, und dadurch „bilden Musik, Sprache und Tanz jene Einheit, die das griechische Wort mousiké umfasst“ (A. Assmann 1991, 188 und > Musiké). Im Verlauf der schriftlichen Fixierung gerät das Flüssige in den Bannkreis des Festen. Künstlerische oder andere geistige Konzepte werden der Gegenwart der oralen Praxis entzogen und erstarren durch Schrift und Bild. Im Dienst des kulturellen Gedächtnisses wird die künstlerische Produktion zum Text und zum Dokument, ein Prozess, der mit einer rigorosen Entkörperlichung (Disembodiment, > Körper) verbunden ist.

Dieses Denkmodell lässt sich auf die Geschichte des ersten OSWs > „Elementare Musikübung“ anwenden. Zunächst entsteht eine künstlerische Konzeption auf der Basis von > Improvisation, die eine vorzeitige Erstarrung durch die > Notenschrift verhindert. Dieser Vorgang ereignet sich in der Günther-Schule quasi inselhaft in der abendländischen Musikkultur, die auf Schrift beruht und in der Oralität nur noch am Rande existiert. In den Schulwerkkursen verlässt Orff die Werkstatt des Flüssigen und trifft auf die Angehörigen einer Schriftkultur. Um seine Konzeption zu tradieren, muss er in der Publikation „Elementare Musikübung“ zur Notenschrift greifen. Er wechselt damit in die Sphäre des Festen. Die Notenschrift wird zur Gefahr für die ursprüngliche Idee, weil sie „generell in den westlichen Kulturen etwas Abgeschlossenes signalisiert, das sogenannte ‚Werk‘ (Kugler 2011, 21). Da Orff die Verfestigung als Gefahr für die Improvisation sieht, veröffentlicht er parallel zur Publikation vier Aufsätze (Kugler 2002, 169-192) von historischer Bedeutung, in denen er den Zustand des ständigen Wandels  durch Improvisation, Bewegung, Tanz zu erklären versucht, aus dem heraus allein das Verfestigte, die Publikation, richtig interpretiert werden kann. Das Orff-Schulwerk ist also grundsätzlich als Einheit von Konzeption und Publikation zu sehen, die sich wechselseitig bedingen.

 

2.2 Eigenschaften

Orff hat den Werdegang seiner Konzeption durch die Metapher vom „Wildwuchs“ (Orff 1963, in: Haselbach 2011, 135) beschrieben. Diese Metapher gehört in der weltweiten Rezeption zu den am häufigsten zitierten authentischen Worten Orffs. Das Umfeld für diesen Wildwuchs bildete die vom geistigen und künstlerischen Aufbruch geprägte Kultur der Weimarer Republik sowie die Günther-Schule mit ihrer weitgehend offenen Arbeitsweise. H. Regner sprach deshalb von einem „offenen Konzept“ (Regner 1980). Diese Eigenschaft ermöglichte eine weltweite Rezeption des OSWs durch vielfältige Adaptionen (Orff-Institut 1995, Quadros 2000). Die Voraussetzung für die Entstehung dieses offenen Konzepts bildete das improvisatorische Arbeiten mit Musik und Tanz in der Günther-Schule. Die Gruppenimprovisation (> Improvisation) wird zum primären Verfahren bei der Produktion von Musik und Tanz. Sie gilt bis heute als unverzichtbar für die Elementare Musik- und Tanzpädagogik und wurde im Rahmen der Kreativitätswelle der 1970er Jahre von verschiedenen improvisationspädagogischen Konzepten meist ohne Bezug auf die Urkonzeption OSW übernommen. Die Improvisation in Musik und Sprache verkörpert bis heute das Flüssige im Sinne von Assmann und spielt in westlicher und nichtwestlicher Folklore sowie in Jazz und Rockmusik eine große Rolle.

Aus der Arbeit der Günther-Schule und aus Orffs musikanthropologischen Überlegungen (Orff 1931-33, in: Kugler 2002, 163-192) erwächst die Rückkehr zur engen Beziehung von Musik und Bewegung bzw. Tanz, wie sie für oral tradierende Kulturen typisch ist. Die Schülerinnen der Günther-Schule waren sowohl als Tänzerinnen wie als Musikerinnen ausgebildet. Die Substanz des Begriffs Orff-Schulwerk darf deshalb nicht auf den Notentext der Publikation festgelegt werden. Die Bewegungskomponente im Schulwerk „Musik für Kinder“ symbolisiert Gunild Keetman (Fischer 2009). Viele ihrer Instrumentalstücke müssen durch Bewegung und Tanz inszeniert und interpretiert werden. Die Erneuerung der spezifisch tänzerischen Komponente wurde seit der Gründung des Orff-Instituts 1961 von Barbara Haselbach fortgeführt, die sowohl mit Keetman wie mit Orff in engem Austausch stand (Haselbach 2004).

Im zweiten Schulwerk > „Musik für Kinder“ dominiert die > Sprache als szenischer Ausdruck. Das kompositorische Umfeld bildet Orffs Musiktheater der 1940er und 1950er Jahre, „Die Kluge“, „Die Bernauerin“ und „Antigone“. Die in den fünf Bänden notierten Stücke auch kompositorischen Eigenwert (Thomas 1977, Keller 1988), aber ihr eigentlicher Sinn besteht in einer klanglichen, tänzerischen und szenischen Neugestaltung. Ziel ist die „Musikalisierung der Sprache“ (Thomas 1977, 125), nicht um Vertonungen im traditionellen Sinne. Dem entspricht das von Orff gewählte Material, rhythmisch-metrisch geformte Sprache vor allem in Kleinformen.

Das OSW ist als künstlerisch-pädagogische „Handwerkslehre“ (Keller 1985, 19) konzipiert und ist „weder ein Leitfaden noch eine Methode“ (E. Preussner, in: Orff 1976, 227). Sowohl  Keller als auch Thomas haben betont, dass Orff professioneller Didaktik fremd gegenüberstand (Keller 1985, 20, Thomas 1985, 162). Eine curriculare Festlegung wie sie sich in den USA zunächst entwickelt hat (Frazee 1987), ist deshalb kritisch zu sehen. Die Weiterentwicklung stellen Publikationen dar, die Arbeitsgebiete, Material und offen formulierte methodische Strukturen anbieten (Goodkin 2002, Frazee 2006). Wenn das OSW im Klassenunterricht allgemeinbildender Schulen angewendet wird, was im Sinne Orffs ist, muss genügend Raum für kreative Phasen und für künstlerische Projektarbeit vorhanden sein.

 

Literaturhinweise:

 

Assmann, Aleida: Fest und Flüssig: Anmerkungen zu einer Denkfigur, in: Assmann, Aleida/Harth, Dietrich (Hg.): Kultur als Lebenswelt und Monument. Frankfurt/M. 1991, 181-199

Doflein, Erich und Elma: Das Geigen-Schulwerk. 3 Hefte. Mainz 1932

Doflein, Erich: Das Geigenschulwerk. Idee, Entstehung, Entwicklung, in: Dahlhaus, Carl (Hg.): Dank an Ludwig Strecker. Festschrift für einen Verleger. Mainz 1973, 89-110

Ferand, Ernst: Die Improvisation in der Musik. Zürich 1938

Frazee, Jane: Discovering Orff. A Curriculum für Music Teachers. Mainz/London 1987

Frazee, Jane: Orff Schulwerk Today. New York 2006

Goodkin, Doug: Play, Sing, and Dance. An Introduction to Orff Schulwerk. Mainz/London  2002

Haselbach, Barbara: Als Lehrling bei Gunild Keetman, in: Regner, Hermann/Ronnefeld, Minna (Hg.): Gunild Keetman 1904-1990. Mainz 2004, 91-99

Haselbach, Barbara (Hg.): Basistexte zum Orff-Schulwerk: Beiträge aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011

Keller Wilhelm: Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk? Rückblende und Vorschau, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1. München 1988, 375-389

Keller, Wilhelm: Zeugenaussage über C. O. und sein Werk, in: Leuchtmann, Horst (Hg.): Carl Orff. Ein Gedenkbuch. Tutzing 1985, 9-32

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl: Spiel- und Tanzstücke für eine Geige. Orff-Schulwerk „Elementare Musikübung“, Geigenübung. 2 Hefte, Mainz 1934

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde. Mainz 1950-54

Orff, Carl: Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick (1963), in: Haselbach, Barbara (Hg.): Basistexte zum Orff-Schulwerk: Beiträge aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011, 135-160 (dt. – engl.)

Orff, Carl: 20 Jahre Schulwerk am Bayerischen Rundfunk, in: Musik & Bildung 1 (1969), 489-491

Orff, Carl: 20 Jahre Schulwerk am Bayerischen Rundfunk 1969

Orff, Carl: Memorandum: Forderung nach der Einführung elementaren Musikunterrichts in Kindergärten und Volksschulen in Deutschland (1965), in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg (Hg.): Jahrbuch III (1964-1968). Mainz 1969, 263ff.

Orff, Carl: Denkschrift über die Einrichtung von Modellklassen mit erweitertem Musikunterricht an Volksschulen (1966), in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg (Hg.): Jahrbuch III (1964-1968). Mainz 1969, 266-269

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976

Orff-Institut, Hochschule f. Musik u. Darst. Kunst „Mozarteum“ (Hg.): Das Eigene – das Fremde – Das Gemeinsame. Symposion 1995, Salzburg 1995

Thomas, Werner: Mussica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

Thomas, Werner: „Gemeinsambrüderliches …“ Erinnerungen an Carl Orff aus drei Jahrzehnten, in: Leuchtmann, Horst (Hg.): Carl Orff. Ein Gedenkbuch. Tutzing 1985, 155-172

Thomas, Werner: Carl Orff und Gunild Keetman, Musica Poetica, Orff-Schulwerk Klangdokumentation. Begleitkommentar im Booklet. Harmonia Mundi 1994

Wick, Rainer: Bauhaus-Pädagogik. Köln 1982

Erstellt am 27.04.2020
Bearbeitet am 7.2.2023

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