Orff-Dokumentation (Schwerpunkt Orff-Schulwerk Bd. 1-3)
Die sog. Orff-Dokumentation mit dem Originaltitel „Carl Orff und sein Werk. Dokumentation“ erschien in acht Bänden in den Jahren 1975 bis 1983 beim Hans Schneider Verlag in Tutzing. Den Kern bilden Orffs eigene Texte zu seiner Biographie, künstlerischen Entwicklung und zu einzelnen Werken. Diese Texte sind durch umfangreiche Partituren, Partiturausschnitte und faksimilierte Autographen ergänzt. Dadurch ist es möglich, Orffs Werkkommentar zu folgen ohne zusätzlich Partituren heranziehen zu müssen. Dazu kommen Werkinterpretationen weiterer Autoren, vor allem von Werner Thomas, dem durch sein philologisches und musikwissenschaftliches Wissen sowie durch seinen freundschaftlichen Austausch mit Orff eine besondere Deutungskompetenz zukommt. Weitere Autoren sind der Theaterwissenschaftler und Kulturmanager Franz Willnauer und der Altphilologe Wolfgang Schadewaldt. Es ist deshalb zu bedauern, dass die zahlreichen Texte Orffs und die Interpretationen nur in einer monumentalen und kostenintensiven Editionsform erschienen sind. Dadurch bleibt die Rezeption des wertvollen biographischen, werkanalytischen, photographischen, faksimilierten Materials, der zahlreichen Notenbeispiel (auch von ungedruckten Stücken) sowie die Texte anderer Autoren begrenzt. Der aus der Dokumentation kompilierte Band „Carl Orff. Erinnerungen“ (Orff 2020) kann diesen Mangel kaum beheben. Er erhält immerhin Orffs eigene Texte, aber das gesamte übrige Material fehlt.
Für das historische und inhaltliche Verständnis des Orff-Schulwerks bis zur Gründung des Orff-Instituts in Salzburg stellt der von Orff selbst verfasste dritte Band der Dokumentation eine Quelle ersten Ranges dar. Auch die ersten beiden Bände enthalten wichtige Aspekte, die für Orffs > Musikbegriff und seinen Kompositionsstil sowie für die fast gleichzeitig entstehenden Fundamente des Schulwerks wichtig sind: „Die Zeit von 1921 bis in den Anfang der dreißiger Jahre war für meine Entwicklung von ausschlaggebender Bedeutung. Sie umfasst meine ‚Lehrjahre bei den alten Meistern‘ und den Beginn der Arbeit am ‚Schulwerk‘“, die „ineinander verzahnt sind und sich gegenseitig bedingen“ (Orff in: Dokumentation I, 69). Der auf drei Bände verteile Zeitraum von 1921 bis 1933 muss also im Hinblick auf seine inhaltlichen Verflechtungen und interpretiert werden. Ohne Rücksicht auf die biographischen und kultur-historischen Voraussetzungen muss es zu Fehldeutungen des Orff-Schulwerks > „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54) kommen.
Überblick über die ersten drei Bände, die für das Verständnis des Schulwerk von besonderer Bedeutung sind:
Band I Frühzeit
Orff, Carl: Erinnerung. Werner Thomas: Der Weg zum Werk. Tutzing 1975
Orffs „Erinnerungen“ beginnen mit einem Blick auf Vorfahren und Familie. Die Darstellung von Kindheit und Jugend enthält bereits wichtige Hinweise auf seinen Werdegang, der eng mit dem > Klavier, der Welt des > Theaters und der großen abendländischen Kunstmusik verbunden ist. In seiner Gymnasialzeit entsteht die starke Bindung an die alten Sprachen Griechisch und Latein. Orff verfolgt seinen Weg als Komponist von ersten Liedern über das Studium an der Münchner Akademie der Tonkunst und die entscheidende Begegnung mit dem Werk Claude Debussys bis zu einer „Reihe jugendlicher Schiffbrüche“ (Bd. 1, 48), wie er seine ersten größeren Kompositionen nennt. Er berichtet von zahlreichen Einflüssen auf seinen geistigen und kompositorischen Weg, darunter die Dichtungen von Maurice Maeterlinck, das japanische Theater, die Kunst des > „Blauen Reiter“ und die sog. Kunst der Primitiven (> Das Primitive). Orffs Bericht über seine Tätigkeit als Theaterkapellmeister an den Münchner Kammerspielen (> München) zur Zeit des berühmten Otto Falckenberg ist die Wurzel seiner engen Bindung seiner Musikvorstellung an Szene und Theater. Der Teil schließt mit den Liedern nach Texten von Franz Werfel und Bertolt Brecht, die bereits den typischen > Klangsatz erkennen lassen: Monophonie (> Bordun), Klangblöcke, > Parallelharmonik, > Ostinato und > Modi.
Band II Carl Orff: Lehrjahre bei den alten Meistern. Tutzing 1975
Die Kapitelüberschriften markieren Orffs „Wegsuche“, wie er es selbst nennt: „Monteverdi“, „Aus meiner Werkstatt“, „Die Zeitgenössische“, „Der Münchner Bachverein“, „Szenisch-konzertante Aufführungen“ (Die Lukaspassion, Auferstehungshistorie), „Entrata“.
Der Titel des Bandes geht aus einem Tagebucheintrag von 1917 hervor: „Alte Meister studieren“ (Dokumentation II, 7), dem Orff 1921 konsequent folgt: „Ich wollte lernen, lernen, lernen. Deshalb ging ich bei den alten Meistern in die Lehre“ (Dokumentation II, 121). Mit dem Titel spielt Orff auf das klassische Ausbildungsschema in den Akademien der Bildenden Künste im 19. Jahrhundert an. Dort sind mit den „Alten Meistern“ die Maler vom späten Mittelalter bis zum Barockzeitalters gemeint, die die Studierenden in den großen Galerien kopieren mussten, um grundlegende Gesetze der klassischen Bildkunst kennen zu lernen. Eine der bekanntesten Sammlungen ist die „Gemäldegalerie Alte Meister“ der staatlichen Kunstsammlungen in Dresden mit Werken des 15.-18. Jahrhunderts.
Orff Studien zeigen, dass er unter „Alte Meister“ die Komponisten von der Vokalpolyphonie des 15./16. Jahrhundert bis zu Johann Sebastian Bach meint. Seit der Wiederbelebung der Musik früherer Epochen in Blockflötenrenaissance, Orgelbewegung und > Jugendmusikbewegung hat sich dafür die missglückte Bezeichnung > „Alte Musik“ eingebürgert. Orff betreibt allein und zusammen mit jungen Komponisten in seiner Münchner Wohnung ein musikwissenschaftliches Selbststudium (Marx 1985). Er befasst sich u.a. mit der Musik von Giovanni Gabrieli, Orlando di Lasso, Heinrich Schütz, der Tastenmusik der Elizabethanischen Epoche, der Lautenmusik des 16. Jahrhunderts und vor allem mit Claudio Monteverdi. Als Leiter des Chors des Münchner Bachvereins inszeniert er die „Ariadne auf Naxos“ von Georg Benda als Marionettentheater und die „Lukaspassion“ eines Bach-Zeitgenossen sowie die „Auferstehungshistorie“ von Heinrich Schütz als szenisch-konzertante Aufführungen (Orff-Doku II, 146ff.).
Bd. III Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1975
> Orffs Musikbegriff und kompositorische Konzeption hat sich nicht konform mit der Musik der Moderne (Leuchtmann 1988) entwickelt. Wesentliche Einflussfaktoren sind die Musik Claude Debussys, die Musik bis zum Generalbasszeitalter und die Musik nicht-westlicher Kulturen. Das betrifft den > Klangsatz, Repetitive Strukturen (> Ostinato) und das Instrumentarium (> Perkussion, > Das Primitive). Der von Orff selbst verfasste Band ist eines der wertvollsten Dokumente der modernen Musikpädagogik. In der Darstellung greifen persönliche Ziele, Einflüsse des kulturellen Umfelds und die Wirkung von Gruppenprozessen in der > Günther-Schule ineinander.
- Ein erstes Themenfeld berichtet über die Entstehung der Günther-Schule im Kontext von innovativer Kunst, der > Rhythmus und Tanzbewegung, des > Ausdruckstanzes (Mary Wigman) und der > Musikethnologie (Curt Sachs). Eine wichtige Quelle sind Programme über öffentliche Präsentationen der Arbeit und über die Erweiterung des Lehrkörpers, aus dem sich als wichtigste Erscheinung für das Schulwerk Gunild Keetman profiliert.
- Das zweite Themenfeld bildet die Entfaltung von Orffs Konzeption der > Elementaren Musik. Drei klassische Orff-Zitate folgen hier dicht hintereinander:
„Am Anfang war die Trommel“ (Curt Sachs), „Tanz ist aufs engste mit Musik verbunden. Eine Regeneration der Musik von der Bewegung, vom Tanz her, war meine Idee, die Aufgabe, die ich mir gestellt hatte“, „Rhythmus wirkt und bewirkt, er ist die einigende Kraft von Sprache, Musik und Bewegung“ (Orff 1976, 17).
Die handwerklichen Felder der Elementaren Musik sind die Schlaginstrumente, Orffs > Klavierübung, eine Improvisationspraxis am > Klavier und seine > Dirigierübung, eine musikalisch-tänzerische Gruppenimprovisation. Die Voraussetzung für die Entfaltung der Elementaren Musik ist der Aufbau des Schlagwerkorchesters mit > Xylophonen und > Blockflöten als Melodieinstrumenten.
- Ein drittes Themenfeld bilden im Zeitraum 1930-36 die Auftritte der > Tanzgruppe Günther, die musikpädagogische Arbeit auf den > Schulwerkkursen und die damit zusammenhängende Publikationsreihe > „Elementare Musikübung“. Höhepunkte der Darstellung der Günther-Schule nach außen waren Tanzwerke mit Choreographien von Maja Lex und Musik von Gunild Keetman. Die Tanzgruppe Günther gewann auf renommierten Tanzwettbewerben erste und zweite Preise. Die Teilnahme der Günter-Schule mit Kindergruppen und Tanzorchester am Olympischen Festspiel 1936 in Berlin (> Olympia-Musik) hatte weniger künstlerische als publizistische Bedeutung. Von dieser Präsentation ist das erste Tondokument des Orff-Schulwerks in Form einer > Schallplatte erhalten, Die Schulwerkkurse in Frankfurt O., Freiburg Br., Stuttgart, Berlin und Bern (Kugler 2000, 210ff.) waren das Experimentierfeld für Orffs Versuch, aus seiner Praxis der Elementaren Musik eine musikpädagogische Konzeption mit der Bezeichnung > „Elementare Musikübung“ zu entwickeln. Im Austausch mit bekannten Musikpädagogen wie Georg Götsch, Erich Doflein, Paul F. Scherber, Fritz Jöde und Eberhard Preussner sammelte Orff die praktischen Erfahrungen, die der Schott-Verlag als Voraussetzung für eine Publikation gefordert hatte. Orffs Ausführungen über die Zeit des > Nationalsozialismus sind äußerst spärlich und unbefriedigend. Hierzu gibt erst die neuere Forschung gründlich Auskunft (Kugler 2000, 226-237, Kugler 2002, Rathkolb 2021, 26-38, 44ff.).
- Das vierte Themenfeld behandelt den Weg des Schulwerks > Musik für Kinder“ vom Beginn der Schulfunksendungen am Bayerischen > Rundfunk 1948 bis zur Gründung des > Orff-Instituts 1961 in Salzburg. Weitere Stationen sind die Drucklegung des Schulwerks > „Musik für Kinder“ 1950 bis 1954 und die Schulwerkkurse von Keetman am „Mozarteum“, die die Internationalisierung in Gang bringen. Über die Gründung des Orff-Instituts berichtet Orff zwar ausführlich, aber auch hierzu muss neuere Literatur herangezogen werden (z.B. Lettowsky 1997). Den Schluss bilden Berichte über die Schallplatten-Dokumentation > „Musica Poetica“ und die ersten internationalen Schulwerkkurse.
Hinweis: Für die wissenschaftliche Arbeit ist die Dokumentation nicht unproblematisch, denn zu zahlreichen Dokumenten ist keine exakte Herkunft, Jahreszahl und Aufbewahrungsort angegeben. Der Benutzer kann allerdings davon ausgehen, dass alle Fragen zu den Quellen vom Orff-Zentrum in München kompetent beantwortet werden.
Literaturhinweise:
Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Bewegungsorientierte Konzeptionen der Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2000
Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002
Lettowsky, Franziska-Maria Anna: Die Anfänge des Orff-Instituts in Salzburg. Eine historische Darstellung. Magisterarbeit in Musikwissenschaft. Universität Salzburg 1997 (Mit dokumentarischem Anhang)
Leuchtmann, Horst: Carl Orff oder Der Ausstieg aus der Musik der Zeit, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1, München 1988, 337-353
Marx, Karl: Erinnerungen an Carl Orff, in: Leuchtmann, Horst (Hg.): Carl Orff. Ein Gedenkbuch. Tutzing 1985, 96-100
Orff, Carl: Erinnerungen. Leben und Werk. Mainz 2020 (mit Bildteil)
Rathkolb, Oliver: Carl Orff und der Nationalsozialismus. Mainz 2021
Thomas, Werner: „Gemeinsambrüderliches…“ Erinnerungen an Carl Orff aus drei Jahrzehnten, in: Thomas, Werner: Das Rad der Fortuna. Ausgewählte Aufsätze zu Werk und Wirkung Carl Orffs. Mainz 1990
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