Körperperkussion (Body Percussion / Klanggesten / Sound Gestures)

Das perkussive Prinzip in der Musik entspringt grundlegenden menschlichen Körperbewegungen wie schlagen, schütteln und kratzen. Die Tatsache, dass bereits die Primaten den Brustkorb zum Trommeln benützen, verbindet die menschliche Körperperkussion mit dem Ausdrucksverhalten unserer Vorfahren in der Evolution. Rhythmisch geordnete Rufe und perkussive Gesten sind in vorindustriellen Kulturen eng mit Arbeitsbewegungen verbunden (Bücher 1899). Schon C. Sachs, mit dem sich Orff ausgetauscht hat, spricht vom weltweit verbreitetem Körperschlag (Sachs 1930/1959). In der Musikethnologie gilt der Körperschlag, vor allem zum Singen, als eine der Universalien der Musik (Födermayer 1998, 97). In den oralen Musiktraditionen dient von den Anfängen an „das körpereigene Instrumentarium (Stimme, Händeklatschen, Stampfen) als primäres Medium des Musikmachens“ (Stockmann, zit. Rösing 1998, 192). Der „in zahlreichen Traditionen auftauchende Gebrauch der Bauchhaut als einer primitiven Form der Membrane“ (Rault 2000, 55) weist auf das übernächste Stadium der Perkussion, die Felltrommel hin und erklärt damit das Prinzip der „Organprojektion“ (C. Sachs), durch die der Körperschlag nach außen auf ein Instrument (instrumentum, lat. Werkzeug) projeziert wird. An den häufig von Körperperkussion begleiteten Fangesängen im Fußballstadion kann man  diese primäre Ebene auch heute noch nachvollziehen und kann verstehen, dass mit Körperrhythmik und Körperschlag auf einer rudimentären Ebene nicht nur Gesang metrisch und rhythmisch geordnet wird sondern auch aggressive psychische Anteile ausgedrückt werden (Kopiez/Brink 1998, 15 f., 183 f.). Demgegenüber bekommt die Körperperkussion im andalusischen Flamenco mit palmas, pitos, zapateado (klatschen, schnipsen, stampfen) eine differenzierte künstlerische Formung (Zimmermann 1999, 74 f.). In der afroamerikanischen Gospelmusik installiert das patting and clapping die körperlich-rhythmische Basis, die zusammen mit der Offbeat-Phrasierung des Gesangs der Steigerung der religiösen Erregung dient. Das Klatschen und Stampfen ist keine Begleitung der Gesänge, ein in der musikpädagogischen Praxis weit verbreiteter Irrtum (Kugler 1986). Die multisensorische Wirkung der Körperperkussion, also taktil, auditiv, visuell und propriozeptiv (Raab1991, 102f.) macht diese zur unverzichtbaren metrischen, rhythmischen und quasi tänzerischen Basis vieler Musikarten. Sie ermöglicht über das Singen hinaus eine spontane Teilnahme an musikalischen Aktivitäten und öffnet oft die Verbindung zum Tanz.

Für den in München geborenen Carl Orff war die Praxis der Körperperkussion, wie sie im oberbayerischen Schuhplattler und im Salzburger Paschen (klatschen) auftritt, schon von seiner kulturellen Herkunft her geläufig. Er hat sich darüber auch mit dem Volksmusikforscher K. Huber und dem Musikethnologen F. Hoerburger ausgetauscht. In Orffs bekannter Definition ist Elementare Musik eine „Musik, in die man nicht als Hörer, sondern als Mitspieler einbezogen ist“ (Orff 1963, in: Haselbach 2011, 147). Damit erweist sich die Körperperkussion als transkultureller und inklusiver Weg zur Musik. U. Jungmair stellt in ihrem Beitrag zur Körperperkussion auf dem Orff-Schulwerk Symposion 1995 (Jungmair 1995) einen interkulturellen Zusammenhang mit drei Musikkulturen her, dem Paschen im Salzburger Land, dem afroamerikanischen Patting Juba in den USA und dem Klatschen und Stampfen im andalusischen Flamenco. Sie betont „die Bedeutung der Schriftlosigkeit für das Realisieren der Körperperkussion“ (Kugler 2008, 35). Die Körperperkussion als unmittelbares Ausdrucksmedium ermöglicht eine unmittelbare Teilhabe an musikalischen Aktionen.

Nach Orffs Darstellung begann der Musikunterricht in der > Günther-Schule „mit Händeklatschen, Fingerschnalzen und Stampfen in einfachen bis schwierigen Formen“ (Orff 1976, 17f.). Die Publikation > „Rhythmisch-melodische Übung“ (Orff 1933) bringt hundert Rhythmusbeispiele, die nach Orffs Anweisung im Anhang alle mit Körperperkussion ausgeführt werden sollen, bevor die Schlaginstrumente zum Einsatz kommen. Die Beispiele reichen von einfachen geraden und ungeraden Metren über Taktwechsel zu komplizierten Metren. Polymetrische Beispiele sind auf zwei und drei Linien notiert. Beim Klatschen soll durch Differenzierung von Flach- und Hohlhandklatschen auf Klang geachtet werden. Auch für das Stampfen gilt eine differenzierte Schlagtechnik mit einem Fuß oder mit beiden Füßen, einschließlich einer unterschiedlichen Aufschlagtechnik von Ferse und Ballen (Orff 1933, 51). In der Günther-Schule wurde auch die Verstärkung des Stampfens durch Schellenbänder praktiziert (Foto mit Keetman (Orff 1976, 19). Die Körperperkussion diente künstlerischen Zielen wie z.B. in Keetmans Kompositionen > „Ekstatischer Tanz“ (Keetman 1933b) und > „Stäbetanz“. Hier agieren zwei Körperkussionistinnen (Foto: Orff 1976, 98f.) als Teil der Musikgruppe. Eine Zeichnung von D. Günther zu „Spielstücke für Blockflöten“ von Keetman (1933) und das Vorwort von Orff fordern, einige Stücke mit Klatschen, Rasseln und Fußschellen zu begleiten.

Daneben ist die Anwendung der Körperperkussion als methodisches Mittel in Keetmans Unterricht (Foto „Rhythmischer Kanon“, Kugler 2000, 193) dokumentiert. Im 1.  Band der > „Musik für Kinder“ werden im Teil > „Rhythmisch-melodische Übung“ unter der Überschrift „Ostinate Begleitrhythmen“ ca. 200 > Rhythmische Bausteine für alle vier Klanggesten vorgeschlagen. Als formale Strukturen dienen > Echospiel, > Rondospiel und rhythmischer Kanon (Orff/Keetman 1950, 71-96). Dazu werden Anregungen für die Gestaltung kleiner Kompositionen für Körperinstrumente gegeben. Keetman hat diese Übungen mit Klanggesten in ihr methodisches Buch „Elementaria“ (Keetman 1970) übernommen und als Lernziele Formgefühl, Gedächtnis, Sinn für Dynamik und Phrasierung sowie Sicherheit im Ensemblespiel genannt. Natürlich darf dieses bausteinhafte Material auf keinen Fall mechanisch angewendet werden, denn Orffs Ansatz zielt eindeutig auf eine Body Percussion, die auch künstlerische Ziele verfolgt. Voraussetzung dafür bildet die Freude am rhythmischen Körperausdruck, der auditiven Sensibilisierung für Körperklänge, dem Umgang mit repetitiven Strukturen und einfachen Formen sowie der Fähigkeit, sich ohne Notenschrift an einem differenzierten Musikmachen beteiligen zu können. > Echospiel und > Rondospiel vermitteln dafür die nötigen Techniken und ermöglichen Musikmachen als soziale Erfahrung in einer Gruppe.

Doug Goodkin (2002, 67 ff.) bezieht sich für die didaktische Begründung der Körperperkussion auf die ethnomusikologische Perspektive. Als Beispiele nennt er u.a. Games und Folk Dances und entwickelt methodische Aspekte mit Bezügen auf Bd. 1 des Schulwerks „Musik für Kinder“. Goodkin geht weiter zur eigenständigen künstlerischen Gestaltung der Klanggesten, angeregt durch „Body Music“ von Keith Terry (ebd. 75-78). Die daraus entstandenen Kompositionen von Goodkins Ensemble an der San Francisco School sind auf YouTube dokumentiert. Terrys und Goodkins Stücke belegen, dass sich hier eine Körpermusik als eigenständige künstlerische Gattung entwickelt hat. Deren Anfang ist wohl bei Steve Reichs „Clapping Music“ von 1972 (Fischer 2009, 220 f.) zu sehen. Allerdings sind repetitive Strukturen mit Körperinstrumenten in der „Elementaren Musikübung“ und in Kompositionen Keetmans den Stücken von Terry und Reich um ca. 40 Jahre voraus. Kritisch ist zu sehen, dass J. Frazee in ihrem Methodik-Buch „Orff Schulwerk Today“ (Frazee 2006, 32 ff.) die Körperperkussion auf eine stützende Begleitung von Sprechen und Singen reduziert und damit sowohl den bei Orff und Keetman mitgedachten Tanz wie auch die Möglichkeit einer eigenständigen Body Music wie bei Goodkin ausblendet.

 

Literaturhinweise:

 

Bücher, Karl: Arbeit und Rhythmus. Leipzig 1899 (2. Aufl.)

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Födermayr, Franz: Universalien der Musik, in: Bruhn, Herbert/Rösing, Helmut (Hg.): Musikwissenschaft. ein Grundkurs. Reinbek 1998, 91-103

Frazee, Jane: Orff Schulwerk Today, Nurturing Musical Expression and Understanding. Mainz/New York 2006

Goodkin, Doug: Play, Sing and Dance. An Introduction to Orff Schulwerk. Miami 2002

Jungmair, Ulrike: Klanggesten in verschiedenen Kulturen. Vergleich und pädagogische Reflexion, in: Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Mozarteum. Musik- und Tanzerziehung als Beitrag zu einer interkulturellen Pädagogik. Salzburg 1995, S. 92-94

Keetman, Gunild: Spielstücke für Blockflöten. Mainz 1933 (a)

Keetman, Gunild: Ekstatischer Tanz. Mainz 1933 (auch in: Orff/Keetman 1950-54, Bd. 5, 101-107)

Keetman, Gunild: Rhythmische Übung. Mainz 1970

Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970

Keller, Wilhelm: Orff-Schulwerk in Musiktherapie und Heilpädagogik, in: Harrer, Gerhart (Hg.): Grundlagen der Musiktherapie und Musikpsychologie. Stuttgart 1975, 175-185

Kopiez, Reinhard/Brink, Guido: Fußball Fangesänge. Würzburg 1998

Kugler, Michael: Körperverlust und Reinterpretation bei der Aufzeichnung und didaktischen Vermittlung von Negro Spirituals, in: Musikpädagogische Forschung 7 (1986), 181-194

Kugler, Michael: Die interkulturelle Dimension des Orff-Schulwerks, in: Pauls, Regina (Hg.): Begegnungen mit Hermann Regner. Salzburg 2008, 21-42

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 3)

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde. Mainz 1950-54

Raab, Claus: Perkussionsrhythmik, in: Fellsches, Josef (Hg.): Körperbewusstsein. Beiträge zu Theorie und Kultur der Sinne. Essen 1991, 98-124

Rault, Lucie: Vom Klang der Welt. München 2000

Rösing, Helmut: Wechselwirkungen zwischen der Herstellung und Aufführung von Musik, in: Bruhn, Herbert/Rösing, Helmut (Hg.): Musikwissenschaft. Ein Grundkurs. Reinbek 1998, 191-207

Sachs, Curt: Vergleichende Musikwissenschaft (1930). Heidelberg 1959

Zimmermann, Jürgen: Juba. Die Welt der Körperpercussion. Boppard 1999

Erstellt am 13.01.2020
Bearbeitet 23.1.2023

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