Klavier / Klavierübung

Das Klavier spielt in Orffs Leben und Werk eine zentrale Rolle. Die biographische Bedeutung des Klaviers beginnt schon beim Vorschulkind. Der kleine Carl sitzt unter dem Flügel und hört dem Spiel seiner Mutter, einer ausgebildeten Pianistin, zu. Als der Fünfjährige eigene Tonfolgen improvisiert, zeichnet sie die Mutter auf und ergänzt sie zu einer kleinen Komposition. Sie gibt ihm den ersten Klavierunterricht (Orff 1975, 21f.) und spielt später vierhändig mit ihm. Auf diese Weise wird das Klavier für Orff im tiefenpsychologischen Sinn zu einem Muttersymbol von großer Bedeutung. Es verbindet sich mit einem fundamentalen Musikerlebnis sowie mit Exploration, Improvisation und der Möglichkeit der Notation. Die Wirkung dieser frühen Erfahrung reicht durch das ganze kompositorische Werk hindurch bis zu Klangexperimenten auf dem Flügel zusammen mit Gunild Keetman kurz vor Orffs Tod (Foto: Gassner 1994, 88). Orff liebte das Arbeiten am Flügel, verbunden mit szenischer Gestik und vokalen Äußerungen wie ein Foto mit Wilfried Hiller belegt (Gassner 1994, 46f.). Das Klavier war für Orff Klanginstrument und perkussives Rhythmusinstrument in einem. Er benützte es als Basis seiner, letzten Endes immer dem Ausdruck und dem Rhythmus der Sprache dienenden dramaturgischen Konzeption (Maehder 2015). Der Münchner Musikjournalist K. H. Ruppel hat berichtet, wie bei Orffs temperamentvollem Vortrag seiner „Carmina Burana“ 1936, also ein Jahr vor der Uraufführung, Pianist und Darsteller zu einer Person verschmolzen (Ruppel 1985, 126).

Klaviere (= Konzertflügel) gehören zu fast jeder Partitur Orffs. In den Werfel-Kantaten sind es zwei Klaviere, in den „Carmina Burana“ ebenfalls, in der „Antigonae“ und „Oedipus der Tyrann“ sechs und im „Prometheus“ sind es vier Klaviere mit acht Spielern (Maehder 2015, 205). Für die Bedeutung des Klaviers spricht auch, dass Orff eine Bearbeitung seiner „Carmina Burana“ für zwei Klaviere und Schlaginstrumente seines Schülers W. Killmayer für Schulaufführungen autorisiert hat. Die Klangästhetik des Klaviers hat bei Orff perkussiven Charakter. Während seine frühen Klavierlieder am Stil der Richard-Strauss-Ära anknüpfen, tritt der Klavierklang in den Kantaten nach Texten von F. Werfel und B. Brecht (1930) bereits weitgehend mit perkussiv gestalteten Ostinati und Klangblöcken in Erscheinung. Orff war sowohl von I. Strawinskys „Les noces“ (1923) als auch vom perkussiven Spiel im Jazz und in jazzverwandter Musik beeinflusst. Orffs Schüler, der Münchner Komponist K. Marx erwähnt in seinen Erinnerungen aus 1923 gemeinsam mit Orff besuchten Konzerten u.a. „Jazz auf vier Flügeln“ und die „Dreigroschenoper“ von Kurt Weill (Marx 1985, 101). Godela Orff berichtet, dass ihr Vater den Chor „O, o, o, totus floreo“ („Carmina Burana“) „wie einen kessen Schlager auf dem Flügel ‚hinhaute‘“ (G. Orff 1992, 37).

In der > Günther-Schule gab es die Pflichtfächer Klavier und Klavierimprovisation. Orff war selbst ein eindrucksvoller Klavierimprovisator, wie G. Keetman berichtet hat (Haselbach 2011, 51f.). Der Improvisationsunterricht fand in Gruppen statt. So konnten an zwei Klavieren bis zu vier Schülerinnen unterrichtet werden. Auch als längst das Perkussionsinstrumentarium die größere Rolle spielte, hielt Orff am Klavierunterricht fest und begründete dies damit, dass „nur auf diesem Instrument die Erschließung großer Klangräume“ (Orff 1976, 49) möglich sei. Die Gestaltung eines Klangraums wird seit seiner Beschäftigung mit der > Alten Musik ein wichtiges Element seiner Kompositionstechnik. Als die Cembalistin A. B. Speckner um 1928 an die Günther-Schule kommt, bringt sie die Tastenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts mit, die auch als Material für Choreographien dient. Orff hat seine Klavierpraxis an der Günther-Schule ausführlich beschrieben und mit Notenbeispielen dokumentiert (Orff 1976, 31-62). Einen kompetenten Versuch einer klanglichen Realisierung von Wilfried Hiller bringt die CD Produktion „Orff-Schulwerk Vol. 3, Piano Music“ (Kraus/Hiller, Track 30-38). Die wichtigsten Merkmale dieser frühen Praxis sind:

  1. Das harmonische Geschehen ist monoklanglich strukturiert und wird von > Bordun, Fundamentklang, Klangblock und rudimentärer > Stufenharmonik bestimmt. Die Bordunklänge sind vielfältig differenziert.
  2. Das melodische Geschehen verwendet pentatonische und modale Skalen (> Modi) und entfaltet sich durch Kolorierung, Paraphonie (Parallelismus) und metrisch freie Melodietypen.
  3. Der musikalische Ablauf wird vom > Ostinato-Prinzip (Pattern-Prinzip), oft auf der Basis von Tanztypen geformt.

Nach den > Schulwerkkursen der Jahr 1931-33 erkannte Orff, dass die Beschränkung auf Blockflöten und Schlaginstrumente zu einer Isolierung seiner Schulwerk-Konzeption führen könnte und dehnte das elementare Musizieren auf Instrumente der tradierten Kunstmusik aus. Er machte die „Klavierübung“ zu einer Abteilung des OSWs > „Elementare Musikübung“. Drei Hefte erschienen von Orffs Assistenten H. Bergese (Bergese 1933 und Kugler 2002, 115) und das Heft „Klavier-Übung. Kleines Spielbuch“ von Orff selbst (Orff 1934/1962). Dieses kleine Spielbuch ist mit Béla Bartóks „Für Kinder“ (1908/09) verwandt. Das erste Stück zitiert sogar das Thema von Bartóks Eingangsstück „Spielende Kinder“ (Schmerda 1996, o.S.).  Kurze Bausteine aus der > „Rhythmisch-melodischen Übung“ (Orff 1933) sind zu einem Klaviersatz erweitert oder finden sich kompositorisch ausgearbeitet in den „Carmina Burana“ und in „Der Mond“ (Thomas 1977, 126ff., Kugler 2000, 256ff., Schmerda 1996 o.S.). Vom „Kleinen Spielbuch“ aus können also im Klavierunterricht Verbindungen zu Orffs Kompositionen hergestellt werden. Es bietet für einen kreativen Klavierunterricht viel Material. Ziel ist der Umgang mit musikalischen Strukturen und nicht die spieltechnische Schulung, wofür H. Regner methodische Vorschläge macht (Regner 1987). Dabei geht es um einfache Motivbildungen und ihre Fortführung zum viertaktigen und achttaktigen Formen und der Erweiterungen zu noch größeren Formen durch Wiederholungen und Transposition einzelner Teile. Einige Stücke bewegen sich im Fünftonraum, sind also auch kleinen Kinderhänden zugänglich. Die klangliche Struktur beruht auf Bordun, Stufenharmonien und einfachsten Dominanten und soll durch Improvisation reichhaltiger gestaltet werden. Eine Erweiterung dieses Repertoires mit Material aus Bartóks „Für Kinder“ liegt nahe.

Von Orffs individualisierter Vorstellung vom Klavierunterricht zeugt der Bericht seiner Privatschülerin Ch. Spangenberg. Orff begann die Lektion mit dem Hören von Schallplattenbeispielen aus dem Klassik-Repertoire und gab der Schülerin dann Impulse zum freien Spiel, zum Variieren einer Melodie, zum Spielen nach einem gegebenen Rhythmus auf der Rahmentrommel und zum Erfinden einer Melodie zu einem ostinaten Bass. Die Schülerin kommentiert im Rückblick: „Er konnte wirklich sehr gut auf ein Kind eingehen“ (Woska-Hiller 2002).

Das ab 1947 entstandene OSW > „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54) sieht kein Klavier vor. Schon in den dreißiger Jahren verlangt Orff, beim elementaren Muszieren müsse „vor allem das helfende Klavier vermieden werden“ (Kugler 2002, 175). Das beruht wohl auf der Überlegung, das Klavier könnte durch seinen dominanten Klang das spezifische Klangspektrum der Schlaginstrumente stören und durch seine Rolle in der Kunstmusik den kreativen Aktivitäten ihren Freiraum nehmen. Bei den Rundfunkaufnahmen (> Rundfunk) für das OSW „Musik für Kinder“ wurde lediglich > Cembalo verwendet (Fotografie ca. 1949, in: Bayerischer Rundfunk 1995, 15), dessen perkussive Klangästhetik ebenso wie Laute und > Gitarre mit Orffs Vorstellungen harmoniert.

 

Literaturhinweise:

 

Bayerischer Rundfunk (Hg.): Carl Orff im Bayerischen Rundfunk. Dokumentation zum 100. Geburtstag von Carl Orff. Ausgewählt und zusammengestellt von Bettina Hasselbring. München 1995

Bergese, Hans: Üb- und Spielstücke. Orff-Schulwerk, Klavierübung Nr. 2, 3, 6. Mainz 1933

Gassner, Hannelore: Carl Orff: Fotodokumente 1978-1981. München 1994

Haselbach, Barbara (Hg.): Basistexte zum Orff-Schulwerk: Beiträge aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011 (Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks, Bd. 1)

Kugler, Michael: die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Bewegungsorientierte Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2000

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002

Marx, Karl: Erinnerungen an Carl Orff, in: Leuchtmann, Horst (Hg.): Carl Orff. Ein Gedenkbuch. Tutzing 1985, 93-110

Maehder, Jürgen: Die Dramaturgie der Instrumente in den Antikenopern von Carl Orff, in: Rösch, Thomas (Hg.): Text, Musik, Szene – Das Musiktheater von Carl Orff. Mainz 2015, 197-174

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl: Kleines Spielbuch. Orff-Schulwerk „Elementare Musikübung“, Klavier-Übung,  Nr. 1, Mainz 1934. Neuauflage Mainz 1962

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde., Mainz 1950-54

Orff, Carl: Erinnerung, in: Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 1, Tutzing 1975, 9-69

Orff, Godela: Mein Vater und ich. Erinnerungen an Carl Orff. München 1992

Ruppel, Karl Heinz: „Eine kuriose Idee“. Erinnerung an eine frühe Begegnung mit Carl Orff, in: Leuchtmann 1985, 125-128

Regner, Hermann: Klavier-Übung, Geigen-Übung, Bläser-Übung. Impulse des Orff-Schulwerkes für instrumentales Lernen, in: Übern & Musizieren 4 (1987), 382-396

Schmerda, Susanne: „… an den Fingern Ohren“ – Carl Orff, in: Booklet zu: Orff-Schulwerk, Vol. 3, Piano Music (siehe Medien)

Woska-Hiller, Elisabeth: „…ein jeder hat so seinen Platz“. Zeitzeugen über Carl Orff. Eine Collage von Elisabeth Woska-Hiller, Bayern 4 Klassik, 30. März 2002. Ungedrucktes Sendemanuskript, Verwendung mit freundlicher Genehmigung von Wilfried Hiller.

 

Medien:

Orff-Schulwerk, Vol. 3, Piano Music. Produced by Ulrich Kraus and Wilfried Hiller. Essay by Susanne Schmerda. CD Tucson Arizona 1996, Celestial Harmonies

Copyright by Michael Kugler

Bearbeitet am 8.12.2022