Um willkürlichen Bedeutungszuschreibungen des Begriffs interkulturell angesichts der Begriffe multikulturell, transkulturell und intrakulturell (vgl. dazu Malkiewicz 2015) zu entgehen, wählt der Artikel folgende pragmatische Definitionen:
Multikulturell: Zustand einer Gesellschaft, in der unterschiedliche kulturelle Gruppierungen zusammenleben, ohne dass zunächst etwas über einen Austausch gesagt ist.
Interkulturell: Beziehungsstrukturen zwischen mehr oder weniger abgrenzbaren Kulturen.
Transkulturell: Kulturelle Phänomene, die sich über viele Kulturen hinweg ausbreiten wie z.B. das Fernsehen oder die westliche Popmusik.
Intrakulturell: Normen, Sichtweisen, Begriffe, die von den Insidern einer Kultur verwendet werden.
Orffs Idee des > Elementaren und der > Elementaren Musik ist vom > Ausdruckstanz und von der Ethnomusikologie inspiriert. Die Beziehung zu fremden Kulturen bahnt sich zunächst durch Mary Wigman an (Kugler 2000, 169 ff.). Sie verwendet nichtwestliche Perkussionsinstrumente in ihrer Schule in Dresden, bedient sich in ihren Choreographien Masken u.a. aus dem No-Theater und sucht die Tanzekstase nach dem Vorbild orientalischer Kulturen wie im Tanz „Drehmonotonie“ unter Verwendung eines chinesischen Gongs (Wigman 1986, 37 ff.).
Orff trifft sich 1921, 1923 und 1926 mit dem Musikanthropologen Curt Sachs und empfängt wesentliche Anregungen nicht nur im Hinblick auf die Musikpraxis der > Günther-Schule (Kugler 2000, 177ff.) sondern vor allem für einen Musikbegriff, der die ästhetischen Grenzen der europäischen Kunstmusik sprengt. Für Orff werden „die weltbekannten anthropologischen und musikethnologischen Untersuchungen zu Musik und Tanz von Curt Sachs … zu einer Basis seiner künstlerischen Entwicklung und seiner musikalischen Konzepte“ (Weinbuch 2010, 56).
Dabei spielen folgende Aspekte eine Rolle:
– Bedeutung der Körperlichkeit für das Hervorbringen von Musik und Tanz, die oft als Einheit und nicht als getrennte Phänomene zu sehen sind.
– Schlaginstrumente sind Ursprungsinstrumente menschlicher Musikkulturemn.
– In orientalischen Musikkulturen als Vorläufer der abendländischen Musik beruht die musikalische Struktur auf einer differenzierten Melodik und Rhythmik, aber einer monoklanglichen Basis (> Bordun).
Daraus ergibt sich > Orffs Musikbegriff (Kugler 2008, 27ff.) der das Schulwerk für ein interkulturelles Konzept öffnet. Das OSW steht auf einem anderen Boden als die der Kunstmusik verpflichteten Konzeptionen von Émile Jaques-Dalcroze und Zoltan Kodaly. Die entscheidenden innovativen Eigenschaften des frühen OSWs > „Elementare Musikübung“ sind das vorwiegend perkussive Instrumentarium, die rhythmisch-melodische vom > Bordun getragene Satzstruktur und die dominanten musikalischen Verhaltensweisen > Motion, > Perkussion und > Improvisation (Kugler 2003, 2015), dazu im OSW „Musik für Kinder“ noch > Sprache (Kugler 2018). Diese vier Universalien ermöglichen es im Grunde, bei fast allen Musikkulturen der Welt anzudocken.
– Perkussion:
Auf Perkussionsinstrumenten kann wie in keiner anderen Instrumentengruppe der unmittelbare Impuls in Klang verwandelt werden. Der Musikethnologe András Varsány (Varsány 2015) und die Ethnologin Isabel Weinbuch (Weinbuch 2010) haben gezeigt, dass die Verwendung von Instrumenten anderer Musikkulturen für das künstlerische und das pädagogische Werk von Orff und Keetman substanzielle Bedeutung haben. Das sog. > Orff-Instrumentarium mit seiner vielfältigen Perkussion spiegelt bereits visuell Orffs Ausstieg aus der westlichen Musikästhetik. So konnte Irmgard Merkt (Merkt 1998) als methodischen Ansatz vorschlagen, „vom pädagogisch vertrauten Schulwerkxylophon … den Weg zurück in die Herkunftskultur zu gehen und das damit verbundene Fremde neu zu entdecken“ (zit. Kugler 2015, 54), womit sie die indonesische Gamelanmusik meinte.
– Motion und Perkussion
sind „anthropologisch betrachtet zwei Seiten derselben Medaille“, denn „rhythmische Tanzbewegungen und rhythmische Körperperkussion bilden als psychomotorische Einheit ein Urmodell des musizierenden Menschen“ (Kugler 2008, 29). In der Günther-Schule wurde diese Einheit als Tanzimprovisation zu improvisierter Musik und als gestische Dirigierimprovisation (> Dirigierübung) realisiert. Am Anfang des ersten Schulwerks > „Elementare Musikübung“ steht also die Bewegung. Es ging Orff dabei immer um „Musik aus der Bewegung“, so der Titel seines Aufsatzes von 1932 (Haselbach 2011, 95-103). Daraus lässt sich für die Praxis des OSWs das Postulat ableiten: Ohne Bewegung kein OSW im authentischen Sinn. Durch diese Dominanz des motionalen Prinzips wird es in der Begegnung mit fremden Musikkulturen möglich, durch sensible Einfühlung in deren Tanzformen auch die Musik zu verstehen.
– Improvisation:
Orffs Satz „Der Unterricht geht in seinem ganzen Umfang von der Improvisation aus“ (Orff 1932/33, in Kugler 2002, 171) meint meist eine strukturierte Arbeit mit vorgegeben Elementen wie > Modus, > Ostinato, Melodie- oder Rhythmus-Bausteinen, tänzerischen Rhythmen wie Bolero, Sarabande, Polka, sprachlichem Material u. ähnlichem. Bei der Begegnung mit einer fremden Musikkultur ist zu prüfen, was dort unter Improvisation verstanden wird. Andernfalls kann es zu einer Übetragung des seit den 1970er Jahren entstandenen musikpädagogischen Improvisationsbegriffs auf eine andere Kultur kommen. Tatsächlich ist Improvisation in vielen Musikkulturen strukturierte Improvisation und wesentlich weniger frei als oft angenommen wird, was ein Blick in die Musikethnologie bestätigt (Weinbuch 2010, 119-127). Auch die im Westen gängige Vorstellung, nicht notierte Musik in schriftlosen Musikkulturen sei freier als notierte trifft meist nicht zu.
– Sprache:
Der weltbekannte afrikanische Musikforscher J. H. Kwabena Nketia, begleitet das Heft „Orff-Schulwerk in African Tradition“ einleitend mit den Sätzen: „The traditional African approach to music is through speech, rhythm and movement. Orff-Schulwerk with combines these with a creative approach to musicianship, therefore, comes very close to the African concept of music making“ (Amoaku 1971). Bekanntlich haben Orff und Keetman beim OSW „Musik für Kinder“ den Hauptakzent auf > Sprache und Sprechen sowie auf Lied und Singen gelegt, denn diese zweite Version des Schulwerks ist für Kinder in öffentlichen Schulen bestimmt. Da es Orffs Idee war, in seinem Werk das verbindende Geistige im europäischen Abendland abzubilden, beginnen die Texte in seinem gesamten Schaffen beim Griechischen und Lateinischen der Antike und setzen sich fort im Altitalienischen, Altfranzösischen, Mittelhochdeutschen bis in das Neuhochdeutsche und das Kunst-Bairische seines Bairischen Welttheaters. In den fünf Bänden der „Musik für Kinder“ finden sich elf französische Texte, sieben lateinische, ein italienischer und ein katalanischer Text. Orff hat betont, man müsse die Arbeit mit dem OSW mit der > Sprechübung beginnen. Daraus ergeben sich vielfältige Möglichkeiten, fremdsprachiges Material zunächst von Aussprache und Rhythmus her zu erschließen, das Ergebnis szenisch und tänzerisch zu gestalten und dann erst mit Melodie zu verbinden.
Einen Beleg für die erfolgreiche interkulturelle Rezeption des OSWs Musik für Kinder bieten die zahlreichen fremdsprachigen Ausgaben. In ihnen wurden anfangs die Publikationen von Orff/Keetman übersetzt. Dann aber ging man dazu über, mit Material aus der rezipierenden Kultur zu arbeiten und damit Orffs Intention zu realisieren. Als 1976 der 3. Band von Orffs Dokumentation über das OSW erschien, gab es eine englische, amerikanische, walisische, kanadische, französische, italienische, lateinamerikanische, portugiesische, niederländische, dänische, schwedische, tschechische, griechische, japanische und afrikanische Ausgabe (Orff 1976, 290f.). Die Grundlagen dafür wurden durch die Begegnung und Interaktion von Studierenden aus aller Welt in den > Orff-Schulwerk-Kursen von Gunild Keetman am Mozarteum in Salzburg geschaffen. Die geistige Voraussetzung aber war Orffs Offenheit und Glaube an die ursprüngliche, Orff würde sagen „elementare“ Substanz aller Musikkulturen. Das bezeugt die taiwanesische Orffpädagogin Shen Su Karner, zu der Orff ermutigend gesagt hat: „Du, bleib so wie du bist, schreib die Musik, die du als Kind gekannt hast, sing und beweg dich, als ob du noch in deiner Heimat wärst.“ (Karner 1993/94, 27). Eindrucksvolle Belege für die interkulturelle Rezeption des Schulwerks sind u.a. die Dokumentationen über das Orff-Schulwerk Symposion 1995 (Hochschule für Musik 1995), die Sammelbände von Quadros (2000) und Haselbach/Stewart (2021) sowie die Filmdokumentation „Mit Xylophon und Fantasie“ von Hermann Regner (Orff-Zentrum München).
Literaturhinweise
Amoaku, W. K. (Ed.): African Songs and Rhythms for Children. A Selection from Ghana. Orff-Schulwerk in the African Tradition. Mainz 1971
Haselbach, Barbara/Stewart, Carolee (Eds.) Orff-Schulwerk in Diverse Cultures. An Idea That Went Round the World. 2021 (Texts on Theory and Practice of Orff-Schulwerk Vol. II)
Hochschule für Musik und darstellende Kunst Mozarteum in Salzburg, Orff-Institut (Hg.): Das Eigene – das Fremde – das Gemeinsame. Musik- und Tanzerziehung als Beitrag zu einer interkulturellen Pädagogik. Dokumentation Internationales Symposion Orff-Schulwerk. Salzburg 1995
Karner, Shen Su: Erfahrungen einer Taiwanesin als Studentin Mutter und Pädagogin in Österreich, in: Orff-Schulwerk Informationen 52 (Winter 1993/94), 26-29
Kugler, Michael: Die interkulturelle Dimension des Orff-Schulwerks, in: Pauls, Regina (Hg.): Begegnungen mit Hermann Regner. Salzburg 2008, 21-42
Kugler, Michael: Motion, Perkussion, Improvisation. Zu den Wurzeln von Orffs pädagogischem Werk, in: Hofmann, Bernhard (Hg.): Muffat, Mozart, Maffay, Strauss. Musik und Musiker in Bayern. Innsbruck 2015, 19-33
Kugler, Michael: Interkulturelle Aspekte des Orff-Schulwerks, in: Orff-Schulwerk Heute, H. 93, Winter 2015, 52-59. Englisch: Intercultural Aspects of the Orff-Schulwerk, in: Haselbach/Stewart 2021, 24-28
Malkiewicz, Michael: Multikulturalität/Transkulturalität/Interkulturalität: Eine Begriffserklärung, in: Orff-Schulwerk Heute H. 93, Winter 2015, S. 9-15 (dt. & engl.)
Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976
Quadros, André de (Ed.): Many Seeds, Different Flowers. Nedlands/Australia 2000
Vallejo, Polo: What to use? The importance of the material in its cultural context, in: Orff-Schulwerk Heute, H. 93, Winter 2015, S. 21-27 (dt. & engl.)
Varsányi, András: Carl Orff und die Musikinstrumente anderer Kulturen, in: Rösch, Thomas (Hg.): Text, Musik, Szene – Das Musiktheater von Carl Orff. Mainz 2015, 175-196
Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010
Wigman, Mary: Die Sprache des Tanzes. München 1986
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