Weihnachtsgeschichte

Das Orff-Schulwerk > „Musik für Kinder“ nimmt seinen Anfang nach dem 2. Weltkrieg mit Schulfunksendungen und mit dem Krippenspiel „Die Weihnachtsgeschichte“ im Bayerischen > Rundfunk. Die „Weihnachtsgeschichte“ wurde am 24. Dezember 1948 gesendet. Der Text stammt von Carl Orff, die Musik von Gunild Keetman. Orff vermerkt auf der Rückseite des Titelblatts der gedruckten Ausgabe von 1952:

„Für den Bayrischen Rundfunk geschrieben. Von Kindern gesungen und dargestellt. Zum 1. Mal gesendet: Weihnacht 1948“ (Orff/Keetman 1952, Faksimile: Orff 1976, 220).

Der Auftrag für die „Weihnachtsgeschichte“ kam vom Rundfunk, nachdem das Orff-Schulwerk „Musik für Kinder“ erfolgreich gestartet war. Krippenspiele gehören zur Tradition des geistlichen Theaters in den alpenländischen Regionen von Bayern und Österreich. Die bis heute in den katholischen Kirchen aufgestellten Krippen zeigen Elemente des geistlichen Spiels und spiegeln die Lust der bodenständigen Bevölkerung, sich das heilige Geschehen durch eine Inszenierung anzueignen. Die Tradition des Weihnachtsspiels reicht bis ins Mittelalter zurück. Die ältesten stammen aus dem 11./12. Jahrhundert. In den „Carmina Burana“ aus dem 13. Jahrhundert findet sich ein umfangreiches Weihnachtsspiel in lateinischer Sprache (Carmina Burana 1979, 654-684) mit verteilten Rollen und Regieanweisungen. Um 1900 entsteht ein besonderer Schwerpunkt der Produktion von Weihnachtsspielen: „Im vornehmen Münchner Künstlerhaus führte der bayerische Verein für Volkskunst und Volkskunde jedes Jahr kurz vor dem Heiligen Abend ein anderes bäuerlich anmutendes Weihnachtsspiel auf (Münchner Bildungswerk 2022, 94). Auch im Münchner Marionettentheater, von dem Orff beeinflusst war (Orff 1975, 25f.), fanden Weihnachtsspiele statt.

Für Orffs Kindheit hatte das elementare, improvisierte szenische Spiel große Bedeutung. Die wertvollen großen Krippendarstellungen in Münchner Kirchen regten schon bei dem Fünfjährigen den Wunsch an, selbst eine Krippe zu bauen, den er bald mit Unterstützung der Eltern realisieren konnte. Weitere Anregungen fürs Orff dramaturgische Fantasie gingen von dem Besuch des Münchner Marionettentheaters sowie von einem einfachen Figurentheater aus, mit dem er selbst bereits kleine Stücke erfinden und inszenieren konnte (Orff 1976, 23-27). Diese Vertrautheit mit der Tradition der Krippenspiele durch eigene Versuche ergaben die Bindung der „Weihnachtsgeschichte“ an bairische Landschaft und Mundart (> Bairische Musik), die Orffs Weihnachtsspiel „Ludus de nato Infante mirificus“ von 1960 fortgesetzt hat (Orff 1960).

Die „Weihnachtsgeschichte“ gehört am Rande zur Werkgruppe „Bairisches Welttheater“ (Orff 1980) mit den Stücken „Die Bernauerin“, „Astutuli“ und den beiden Mysterienspielen „Ludus de nato Infante mirificus“ und „Comoedia de Christi Resurrectione“. Der dramaturgischen Konzeption des Hörspiels entsprechend wird das religiöse Geschehen vom Zuschauer durch die naive Beschreibung der drei Hirtenbuben erlebt, deren kraftvoller bairischer Dialekt unmittelbare Gegenwart schafft. Die Sprache ist hier keine bairische Kunstsprache wie in der „Bernauerin“ sondern ist geprägt von Orffs Erleben als kleiner Bub in den Jahren nach 1900 im Dorf Unteralting bei Grafrath und vom Einfluss der Haushälterin Fanni der Familie Orff:

„Meine Schwester und ich waren viel bei der Fanni in der Küche, und wann immer Zeit sie hatte, gab sie sich mit uns ab. Sie sprach noch völlig unverfälschten Dialekt. Wir Kinder lernten ihn von ihr, und in Unteralting kam er uns im Umgang mit den Dorfkindern sehr zugute und wurde dort noch weiterentwickelt. Wie sehr mich der Dialekt beschäftigte, geht daraus hervor, dass ich versuchte, ihn phonetisch aufzuschreiben“ (Orff 1980, 36).

 

Kommentierte Inhaltsangabe (originale Überschriften in Anführungszeichen):

  1. „Einleitung“ instrumental
  2. „Und es waren Hirten“. Evangelientext, Blockflöten und Szene der Hirten
  3. „Pastorale“
  4. Szene der Hirten und Evangelientext „Fürchtet euch nicht“
  5. „Gloria“. Chor der Engel: Gloria-Ruf einstimmig und deutscher Evangelientext dreistimmig, Instrumente.
  6. Szene der Hirten
  7. „Marsch der Hirten“
  8. „Vor der Krippe“
  9. „Benedicamus“: Chor und Instrumente unter Verwendung des Lieds „Als ich bei meinen Schafen wacht“ mit dem Refrain „Benedicamus Domino“.
  10. „Kindelwiegen“ unter Verwendung des Liedes „Josef, lieber Josef mein“: Maria, Josef, Instrumente

11.a „Marsch der Heiligen Drei Könige“. Der Zuschauer erlebt durch den Kommentar der drei Hirten das prächtige Schauspiel des Aufzugs der Könige.

11.b Instrumental

12.a „Reverenz“: Instrumental

12.b Ohne Titel

12.c „Die ganz große Reverenz“ instrumental

12.d „Abzug der Heiligen Drei Könige“. Musik und Szene.

  1. „Dormi Jesus“. Chor und Instrumente
  2. „Gloria“. Finale mit großem Instrumentalensemble. Der Gloria-Ruf einstimmig und im dreistimmigen parallelharmonischen Satz.

 

Besetzung:

Sprecher, 3 Buben als Hirten, Maria, Josef, Kinderchor, Solostimmen, 2 Diskantblockflöten, 3 Sopranblockflöten, 2 Altblockflöten, 1 Tenorblockflöte, Gitarre, Laute, 3 Gamben, Cello, Bass, 3 Sopran-, 4 Altglockenspiele, Sopran- und Altxylophon, 2 Pauken, Cymbel, Becken, Triangel, Schellen, Schellentrommel, Tomtom, große Trommel.

 

Gunild Keetmans Musik bietet ein treffendes Beispiel für eine Theatermusik im elementaren Satz, die durch modale und minimalistische Strukturen Gefühligkeit und falsche Monumentalität gleichermaßen vermeidet. Zweifellos bildet Keetmans Musik das eigentliche Werk, für die Orffs Text gewissermaßen die szenische Folie abgibt. Wie Cornelia Fischer (Fischer 2009, 371ff.) gezeigt hat, ist es  ein Verlust für die Musik nach dem 2. Weltkrieg, dass sich Keetman auf Betreiben Orffs mit der internationalen Verbreitung des Orff-Schulwerks befassen musste und dadurch ihr kompositorisches Potential, wie es in den choreographischen Kompositionen der Zeit der > Günther-Schule angelegt war, nicht weiterentwickeln konnte.

Die Einleitung ist eine Miniatur aus zwei ostinaten Schichten. Die beiden Oberstimmen bewegen sich in Terzgängen mit viertaktigen Einheiten, die Unterstimmen setzen Terzgänge in zweitaktigen Einheiten dagegen. Daraus entsteht ein schwebendes Klangbild fast ohne Schlussbildungen. Der Gloriagesang der Engel rezitiert den heiligen Text „Gloria in excelsis. Ehre sei Gott in der Höhe“ auf c über viertaktigen pentatonischen Ostinati auf C und gestützt durch pentatonische Cluster der Sopran- und Altglockenspiele. Der Sprachabschnitt „Friede auf Erden“ erklingt in einem drei- und vierstimmigen modalen Parallelensatz (> Parallelharmonik). Als typische Bühnen-Aufzugsstücke präsentieren sich der „Marsch der Hirten“ und der „Marsch der Heiligen Drei Könige“. Satztechnisch folgen beide dem, bis ins 16. Jahrhundert zurückreichenden Musikstil der Pfeifer und Trommler. Über einem Bordunsatz im starren 4/4-Metrum erklingt eine formelhafte Melodie in Terz- und Sextverdoppelung aus ostinaten ein- oder zweitaktigen Motiven. Das Stück „Kindelwiegen“ (Nr. 10) mit dem aus dem 16. Jahrhundert stammenden Lied „Josef, lieber Josef mein, hilf mir wiegen mein Kindelein“ weist auf einen alten religiösen Brauch in München hin, das sog. Kindelwiegen. Die Mönche des Augustinerklosters hielten vor der Figur des Christkinds eine Andacht, „bei dem die Mönche das Kind unter Anwesenheit zahlreicher Mütter mit ihren Kindern sanft in seiner Wiege schaukelten“ (Münchner Bildungswerk 2022, 112). Stilistisch aus der Rolle fällt der ausharmonisierte Satz des Weihnachtslieds „Als ich bei meinen Schafen wacht“ (Nr. 6 „Benedicamus“). Außer zwei Blockflöten prägen Laute und Soprangambe das Klangbild. Man kann hier Orffs Handschrift vermuten, der mit der Verwendung der Laute an seine Bearbeitung von Lautensätzen des 16. Jahrhunderts (> Alte Musik) „Kleines Konzert für Cembalo, Flöte Oboe, Fagott, Trompete Posaune und Schlagwerk“ aus dem Jahr 1928 (Orff 1975b, 130ff.) erinnert. Die Verwendung der Gambe in diesem Stück und in folgenden Nummern darf als Hinweis auf seine Gambe spielende Frau Gertrud Orff-Willert (Köllinger 2018, 24ff.) verstanden werden. Das abschließende „Gloria“ rezitiert der Chor zunächst fanfarenartig auf einen Ton und singt dann einen organalen Quintparallelen-Satz.

 

Literaturhinweise:

 

Carmina Burana. Die Lieder der Benediktbeurer Handschrift. Zweisprachige Ausgabe. Zürich/München 1979

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Köllinger, Sibylle: Gertrud Orff-Willert. Das musikpädagogische und musiktherapeutische Werk. Mainz 2018

Münchner Bildungswerk (Hg.): Dreyer, Angelika/Sepp, Martina: Klaubauf, Klöpfeln, Kletzenbrot: Der Münchener Adventskalender. München 2022 (4. Auflage)

Orff, Carl: Die Weihnachtsgeschichte. Musik: Gunild Keetman. Mainz 1952 (Orff-Schulwerk. Jugendmusik)

Orff, Carl: Ludus de nato Infante mirificus. Ein Weihnachtsspiel. Mainz 1960

Orff, Carl: Erinnerung. Tutzing 1975 (Carl Orff und sein Werk. Dokumentation Bd. 1)

Orff, Carl: Lehrjahre bei den Alten Meistern. Tutzing 1975 (Carl Orff und sein Werk. Dokumentation, Bd. 2) (= 1975b)

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Carl Orff und sein Werk. Dokumentation Bd. 3)

Orff, Carl: Bairisches Welttheater. Tutzing 1980 (Carl Orff und sein Werk. Dokumentation Bd. 4)

Hinweis: Wer keinen Zugriff auf die Dokumentation hat, kann die angegebenen Texte auch in dem neueren Sammelband Carl Orff, Erinnerungen. Leben und Werk. Mainz 2020 finden.

 

Medien:

Carl Orff: Weihnachtgeschichte. Weihnachtslieder. Musik: Gunild Keetman. Salzburger Hirtenbuben, Tobi Reiser. Der Tölzer Knabenchor. Leitung: Gerhard Schmidt-Gaden

LP Harmonia Mundi 1961, EMI Electrola 1C 057-99685

Carl Orff: Die Weihnachtsgeschichte. Musik: Gunild Keetman. Tölzer Knabenchor, Collegium Pro Musica Innsbruck. Leitung: Gerhard Schmidt-Gaden. CD EMI Electrola 1989

Verfilmungen: WDR 1964, BR 1975

 

Anmerkung: Unter Bayern (bayerisch / bayrisch) versteht man das heutige, geographisch und politisch definierte Staatsgebiet, also Bayerischer Rundfunk, Bayerischer Landtag. Mit bairisch dagegen bezeichnet die Kulturwissenschaft eine Dialektgruppe. Heute wird das Wort bairisch für authentische kulturelle Traditionen in diesem Sprachgebiet angewendet, wie z.B. bairische Dichtung, bairische Trachten, bairische Musik und bairischer Volkstanz.

 

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