Rundfunk

Die erste Begegnung Orffs mit dem Medium Rundfunk ergab sich auf dem Tonkünstlerfest des „Allgemeinen Deutschen Musikvereins“ 1930 in Königsberg. Bei seinem Studium der sog. > Alten Musik hatte Orff sich mit der mehrchörigen Musik der Venezianer (Andrea und Giovanni Gabrieli) und mit der Musik der englischen Virginalisten befasst. Er bearbeitete das Ostinato-Stück „The Bells“ von William Byrd aus dem „Fitzwilliam Virginal Book“ als groß angelegtes mehrchöriges Klangstück (> Klang) mit dem Titel „Entrata“ (Orff 1975, 193-195) und plante, seine „Musik durch Großlautsprecher von Türmen, die zueinander in bestimmter Kommunikation standen, zu senden“ (ebd. 193). Auf dem Messegelände in Königsberg wurde dieses Projekt mit Hilfe des Rundfunks realisiert. In der > Günther-Schule kam es erstmals 1932 zu einer Rundfunkaufnahme der Deutschen Welle. Eine Fotografie zeigt Hans Bergese, Gunild Keetman und Wilhelm Twittenhoff mit Schülerinnen vor einem Mikrofon (Kugler 2002, 269). Tonaufnahmen davon existieren nicht. Die Verbindung des OSWs > „Musik für Kinder“ mit dem Rundfunk begann 1948, als der Musikjournalist Walter Panofsky eine Schallplatte mit „Einzug und Reigen“ aus der sog. > Olympiamusik entdeckte. Er spielte sie Annemarie Schambeck, der Leiterin des Schulfunks beim Sender „Radio München“ (Orff 1976, 212, Maschat/Regner/Hartmann 2000, 24), dem Vorläufer des Bayerischen Rundfunks vor. Schambeck bat Orff, so eine Musik für Kinder zu schreiben, die der Schulfunk übertragen würde und zu der die Kinder in den Klassenzimmern mitmusizieren könnten (Orff 1976, 212). Nach erstem Zögern erklärte Orff sich bereit, zusammen mit Keetman und dem Münchener Volksschulrektor Rudolf Kirmeyer Material für eine erste Sendefolge zu entwerfen, betrachtete aber das Ganze zunächst nur als Versuch (Panofsky 1962, 71). Auch der Rundfunk war sich der Resonanz nicht sicher und führte deshalb im Sommer 1948 die ersten Aufnahmen auf dem Pädagogen-Kongress „Erziehung durch Radio“ vor. Von Ausnahmen abgesehen stießen diese ersten Aufnahmen auf Ablehnung. Der Schulfunk wagte dennoch eine Reihe von 14 Sendungen, die zu einem überraschenden Erfolg wurden.

Dafür gibt es mehrere Ursachen:

– Das Schulwerk tritt durch den Rundfunk von außen an die Schulen heran und nicht durch Lehrpläne von innen. Diese Offenheit des Zugangs ermöglicht es den Lehrer/innen, frei mit den Sendungen zu arbeiten (Panofsky 1962).

– Das Medium Rundfunk vermittelt Musik und Musizieren als auditives Phänomen. Hören, Singen und Instrumentalspiel bekommen wieder ihre anthropologische Bedeutung vor und jenseits der Notenschrift (Suppan 1986 und > Notenschrift). Die enge Bindung des Musikmachens an die Notation der westlichen Kunstmusik und ihrer Musikpädagogik ist damit innerhalb gewisser Grenzen aufgehoben.

– In den Sendungen treten die Kinder in den Vordergrund: „Kinder musizieren für Kinder und mit Kindern“ (Panofsky 1962, 72). Auf theoretische Einführungen wird verzichtet und zum eigenen Musizieren und Gestalten aufgefordert.

– Die sog. > Orff-Instrumente (> Perkussion, > Stabspiele) sowie > Blockflöten schaffen eine neue Klangästhetik. Ostinati und einfache tonale Strukturen machen das Musizieren für Kinder ohne Notenkenntnisse, aus bildungsfernen Schichten und mit reduzierten kognitiven Fähigkeiten möglich. Zweifellos hat hier der Inklusionsgedanke für die Teilhabe an der aktiven Musikausübung seine Wurzeln.

Die Realisierung des Schulwerks „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54) im Medium Rundfunk lag in den Händen von Keetman, Gertrud Orff-Willert (die zweite Frau Orffs) und Kirmeyer. Kirmeyer leitete als Rektor der Schwanthaler-Schule einen Kinderchor, mit dem er an Rundfunksendungen beteiligt war (Historischer Kreis 2021, 2f.). Orffs globale Aussage „Wir begannen unsere Sendungen im Herbst 1948 mit unvorbereiteten Schulkindern im Alter von 8 bis 12 Jahren“ (Orff 1963, 17) bedarf also der Korrektur und der Ergänzung: Die Kindergruppe war sicher nicht unvorbereitet und bei der Teamarbeit spielten Keetman und Kirmeyer die Hauptrolle. Orff und Keetman entwarfen die Texte und die musikalischen Strukturen. Zwei Fotos zeigen Orff im Studio mit einem Manuskript und Keetman experimentierend mit einem pentatonisch bestückten Glockenspiel (Hasselbring 1995, 12). Die Ensemble-Aufnahmen leitete Keetman und zog für die schwierigeren Arrangements ehemalige Schülerinnen aus der > Günther-Schule heran (Hasselbring 1995, 17). Die organisatorische Arbeit, das Zusammenspiel von Manuskriptfassung, Proben, Kontakt zu Kirmeyer und Kontakt zur Schulfunkredaktion leistete Orff-Willert, die später durch ihre > Orff-Musiktherapie bekannt wurde (Köllinger 2018). Sie schrieb Entwürfe zum Ablauf von Sendungen und wirkte bei Proben und Aufnahmen als Organisatorin und Instrumentalistin mit (Köllinger 2018, 38-45). Da Orff mit der Komposition der „Antigonae“ beschäftigt war, hätte er „ohne die beiden Frauen … sein Vorhaben auf keinen Fall verwirklichen können“ (ebd. 39).

Als Instrumente standen anfangs nur Restbestände aus der Günther-Schule zur Verfügung, die im Hause von Orff und Orff-Willert in Gräfelfing den Krieg überstanden hatten. Sie gehören heute der Carl Orff-Stiftung und werden in der Orff-Villa in Dießen/Ammersee aufbewahrt. Gleichzeitig mit den ersten Sendungen begann Klaus Becker 1948 mit dem Bau neuer Instrumente. 1949 entstand die Instrumentenfabrik > Studio 49 in Gräfelfing bei München, in der bis heute (2023) die klassischen > Orff-Instrumente produziert werden (Orff 1976, 217f.). Das Echo aus den Schulen war groß und „steigerte sich mit jeder Sendung“ (Panofsky 1962, 72). Das hatte mit dem damals hochattraktiven Medium Rundfunk zu tun sowie mit den musikalischen und sprachlichen Strukturen, die in den ersten Sendungen angeboten wurden: Pentatonik, Kleinformen wie Ruf- und Spruchdichtung (> Sprache) und einfache > Ostinati. Die Arrangements, die für die Lehrer/innen in den Schulfunkheften des Bayerischen Rundfunks (Schulfunk 1949) abgedruckt wurden, waren wesentlich einfacher als in den späteren Publikationen (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 1). Keetmans handschriftliches Notenmaterial zu den Sendungen vom 15.9.1948 bis 6.4.1949 und ihre zahlreichen Skizzen zu Varianten (Orff-Zentrum München, Archiv) zeigen das Vorstadium der Publikation > „Musik für Kinder“. 1949 veranstaltete der Schulfunk ein Preisausschreiben, in dem die Schulkinder aufgefordert wurden „zu gegebenen Reimen und Liedtexten Melodien und Begleitungen zu erfinden und aufzuschreiben“ (Orff 1976, 218). Aus den zahlreichen Einsendungen (OZM, Archiv) zog Orff den richtigen Schluss, „dass die Sendungen richtig verstanden und verarbeitet worden waren“ (Orff 1976, 218).

 

Archivmaterial:

 

Manuskripte bzw. Aufnahmen im Archiv des OZM und des Bayerischen Rundfunks:

– Sendereihe „Wir singen und musizieren: Das Orffsche Schulwerk“ September 1948 – April 1949

– Sendereihe „Jugendmusik nach dem Orffschen Schulwerk“ 1951-1952 von C. Orff, G.  Keetman, W. Götze

– G. Keetman Singspiele 1955-1957

– Schulfunksendungen Orff-Schulwerk November 1958 bis Juli 1960. Manuskript Ludwig Wismeyer (OZM, Archiv), musikalische Realisierung G. Keetman

Spätere Fortsetzungen der Sendungen mit dem OSW sind u.a.:

– „Orff-Schulwerk“, gestaltet von Hermann Regner ab 26.9.1964

– „Kinder machen Musik – neue Wege zum Orff-Schulwerk von Wolfgang Hartmann 1985-1995 (Maschat/Regner/Hartmann 2000)

 

Literaturhinweise:

 

Hasselbring, Bettina (Hg.): Carl Orff im Bayerischen Rundfunk. München 1995

Historischer Kreis Dorfen: Erinnerung an Rektor Rudolf Kirmeyer (1894-1974). Broschüre einer Veranstaltung am 12.3.2021 in Dorfen. Internet: https://historischer-kreis.de/wp-content/uploads/2021/01/Kirmeyerheft.pdf

Köllinger, Sibylle: Gertrud Orff-Willert. Das musikpädagogische und musiktherapeutische Werk. Mainz 2018

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München von 1924 bis 1944. Mainz 2002

Maschat, Verena/Regner, Hermann/Hartmann, Wolfgang: Orff-Schulwerk am Bayerischen Rundfunk (1948-heute), in: Orff-Schulwerk Informationen 64, Sommer 2000, 24-28

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bände. Mainz 1950-54

Orff, Carl: Das Schulwerk – Rückblick und Ausblick, in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg. Jahrbuch 1963. Mainz 1964, 13-20

Orff, Carl: 20 Jahre Schulwerk am Bayerischen Rundfunk, in: Musik und Bildung Jg. 1 (1969), S. 489-491

Orff, Carl: Vom Kaffern-Klavier zum Schulwerk Xylophon. Carl Orff erzählt von der Geschichte seiner Schulmusik und ihrer Instrumente, in: Allgemeiner Schulanzeiger für die Bundesrepublik Deutschland 1969, September-Heft, 18-19, 22-23, 26

Orff, Carl: Lehrjahre bei den Alten Meistern. Tutzing 1975 (Dokumentation Carl Orff und Sein Werk, Bd. 2

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 2)

Panofsky, Walter: Orff-Schulwerk im Rundfunk, in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg. Jahrbuch 1962. Mainz 1962, 70-73

Regner, Hermann: Das Orff-Schulwerk in Hörfunk und Fernsehen, in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg. Jahrbuch III (1964-1968). Mainz 1969, 233-235

Suppan, Wolfgang: Musica Humana. Die anthropologische und kulturethologische Dimension der Musikwissenschaft. Wien 1986

 

Vgl. auch das Stichwort > Fernsehen

 

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Bearbeitet am 13.04.2023