Rhythmisch-melodische Übung

Die „Rhythmisch-melodische Übung“ (Orff 1933) ist ein Heft des ersten Orff-Schulwerks > „Elementare Musikübung“. Der Titel spiegelt den > Musikbegriff Orffs, der nicht an die europäische Kunstmusiktradition anknüpft, sondern einen Neubeginn wagt. Unter dem Einfluss des Musikanthropologen Curt Sachs (> Musikethnologie) befasst sich Orff mit musikethnologischen Schallplatten und Büchern (Weinbuch 2010, 50-61). Er erkennt in den orientalischen Kulturen ein Musikkonzept, das nicht auf der engen Verbindung von Stimmen und Zusammenklängen wie in der abendländischen Kunstmusik beruht, sondern auf einander zugeordneten melodischen und rhythmischen Strukturen. Freiräume werden durch > Improvisation nach musikkulturellen Regeln ausgefüllt. Vertikale Zusammenklänge spielen in diesen Musikarten entweder keine Rolle oder beschränken sich auf eine monophone Stütze (> Bordun). Damit wird für das Erschließen von Orffs Konzept einer > Elementaren Musik das Erarbeiten und Einüben von Rhythmus und Melodie, geformt durch improvisatorische Prozesse zur primären Aufgabe (vgl. Keller 1962, 127).

Die „Rhythmisch-melodische Übung“ ist als grundlegende Einführung in die > Gruppenimprovisation gedacht (Keller 1963, 5). Der aus überschaubaren rhythmischen und melodischen Beispielen aufgebaute Materialbestand stammt teilweise aus dem Unterricht in der Günther-Schule und lässt Orffs Vorstellung von improvisierter Elementarer Musik deutlich werden. Es handelt sich um eine Art Baukasten, mit dessen notiertem Material der Einstieg in die Improvisation initiiert werden soll (Kugler 2000, 239-258). Diese „zwanglos zusammengestellte Sammlung von Rhythmen und Melodien mit über 250 Beispielen und Modellen“ (Orff 1976, 131) bietet ein vielfältiges Material, an das sich Hinweise zur Realisierung anschließen (Orff 1933, 51 f.). Den Schluss des Hefts bilden Notenbeispiele im Kleindruck, zum Teil in Partitur, die Gestaltungmöglichkeiten als Muster zu einigen Rhythmus- und Melodiebausteinen zeigen. Es steht außer Frage, dass dieses Heft eine Antwort auf die Gegebenheiten der Schulwerkkurse ist. Während in der > Günther-Schule Improvisation und schriftlose Praxis an der Tagesordnung waren, wurden die Schulwerkkurse von Musik- und Gymnastiklehrer/innen besucht, für die nicht nur das Improvisieren völlig neu war sondern auch die Arbeit mit unregelmäßigen und freien Metren, mit Körperperkussion, modalen Melodien und Bordunklängen. Orff hat später Beispiele aus der „Rhythmisch-melodischen Übung“ in seine Dokumentation über das Schulwerk übernommen (Orff 1976, 116-130) und kommentiert. Die „Rhythmisch-melodische Übung“ ermöglicht auch einen Einblick in Orffs Kompositionswerkstatt. W. Thomas (1977, 126-132) hat die Verarbeitung von einzelnen Bausteinen in „Carmina Burana“, „Der Mond“, „Die Kluge“ und „Catulli Carmina“ nachgewiesen.

Auch im OSW > „Musik für Kinder“ finden sich Teile mit dem Titel „Rhythmisch-melodische Übung“:

– Orff/Keetman: Musik für Kinder, Bd. 1, Mainz 1950, S. 67-110

– Orff/Keetman: Musik für Kinder, Bd. 5, Mainz 1954, S. 79-100

Auch hier soll durch spielerisch-konstruktiven Umgang mit dem bausteinhaften Material das improvisierende Gestalten angebahnt werden. Alle von Orff und Keetman ausgearbeiteten modellhaften Partituren in den sog. fünf ‚grauen‘ Bänden, in der AOSA  „the volumes“ genannt (Orff/Keetman 1950-54), gehen davon aus, dass zunächst mit der Rhythmisch-melodischen Übung die Basis für eine kreative Arbeit gelegt wird, bevor, ebenfalls gestaltend und nicht reproduzierend, mit den ausgearbeiteten Stücken begonnen wird. Der Publikation der > „Musik für Kinder“ gingen Sendungen des Bayerischen > Rundfunks voraus, auf die die teilnehmenden Kinder durch G. Keetman vorbereitet wurden. Keetman leitete auch die Produktionen im Studio, für die ein eigenes Jugendorchester zusammengestellt wurde (Fischer 2009, 50). Man kann deshalb annehmen, dass das Material dieser neuen Version gegenüber der Version von 1933 mit Ausnahme der Sprechübung von Keetman stammt. Da es sich hier um eine Musik handelt, „die von Kindern gespielt, gesungen, getanzt, aber auch in ähnlicher Weise von ihnen selbst erfunden werden konnte“ (Orff 1976, 212), musste für die Lehrer/innen ohne Erfahrung mit der Improvisation ein grundlegendes Werkzeug bereitgestellt werden. Die „Rhythmisch-melodische Übung“ im OSW „Musik für Kinder“ enthält (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 1, 68-110) folgende Arbeitsformen:

– „Rhythmen zum Vor- und Nachklatschen“ (heute: Echospiel bzw. Ruf-Antwortspiel) und

„Rhythmen zum Klatschen, Melodienbauen und Textieren“

– „Ostinate Begleitrhythmen“, „Rhythmen über ostinater Begleitung“

– „Rhythmen zum Weiterführen und Ergänzen“

– „Rhythmische Rondospiele“ und „Rhythmische Kanons“

– „Übung zum Patschen“

– „Melodien zum Weiterführen und Ergänzen“

– „Ostinatoübung für Stabspiele“ sowie „Rondospiel“ und „Kanon-Übung“

Viele dieser Übungen gehören heute zum methodischen Standardrepertoire von Musikpädagog/innen, oft freilich ohne ein Wissen über ihre Herkunft. Das Bausteinmaterial für Körperperkussion und Stabspiele wird im Hinblick auf Niveau und Spielfähigkeiten gesteigert. Die fortgeschrittenen Übungen für Körperperkussion (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 1, 78f.), für die Ostinati auf Stabspielen (ebd. 100-105) und vor allem der 2. Teil der „Rhythmisch-melodischen Übung“ im 5. Band (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 5, 1954, 80-100) widerlegen den Vorwurf des Simplen, der gegen das OSW erhoben wurde. Im 2. Teil der „Rhythmisch-melodischen Übung“ greift Orff weitgehend auf die Rhythmen seines Hefts von 1933 zurück, die Taktwechsel, komplexe Rhythmen, asymetrische Taktarten und polyrhythmische Strukturen aufweisen (vgl. Kugler 2000, 245 ff.). Die minimalistischen Modellstücke für Körperperkussion Nr. 71-112 erlauben eine Steigerung bis zur Virtuosität. Auch zu diesen Beispielen gibt Orff im Anhang (Orff/Keetman Bd. 5, 1954, 143-150) Vorschläge zur Ausgestaltung. Dazu gehört selbstverständlich die Realisierung mit Sprache und mit Instrumenten. Orff hat darauf hingewiesen, dass die „Rhythmisch-melodische Übung“ durch ein notengetreues Nachspielen falsch interpretiert wird. Sein Ausgangspunkt war nämlich der „freie Unterricht ganz aus der Improvisation“ heraus, zu dem Orff jedoch einschränkend bemerkt, „dass dieser Unterrichtsweise nicht jedermann gewachsen ist“ (Orff 1976, 131). Mit den Bausteinen und > Modellen sollte ein „Spiel der Phantasie“ entstehen, denn es ist „Phantasie …, was hier geweckt und geschult werden soll“ (ebd. 131).

 

Literaturhinweise:

 

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischen und didaktischen Anspruch. Mainz 2004

Keller, Wihelm: Elementare Musik. Versuch einer Begriffsbestimmung (1962), in: Haselbach, Barbara (Hg.): Basis-Texte zum Orff-Schulwerk: Beiträge aus den Jahren 1932-2010, 119-134. Mainz 2011, 119-134 (Studientexte zur Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks, Bd. 1)

Keller, Wilhelm: Einführung in „Musik für Kinder“. Methodik, Spieltechnik der Instrumente, Lehrpraxis. Mainz 1963

Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Bewegungsorientierte Konzeptionen der Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2000

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 3)

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde. Mainz 1950-54

Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010

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Bearbeitet am 5.1.23