Musische Erziehung / Musische Bildung

Der Begriff Musische Erziehung, der seit den 1960er Jahren auch als Musische Bildung weitergeführt wird, ist ein Erbe der Jugendbewegung und der > Jugendmusikbewegung. Er geht auf den Kunstbegriff > Musiké (auch: mousiké) zurück, mit dem das Zusammenwirken von Musik, Sprache und Tanz in der griechischen Antike gemeint war (Georgiades 1958). Mit diesem Terminus wurde aber auch „jede Kunst bezeichnet, deren Leitfigur eine Muse war, und allgemein jede künstlerische und wissenschaftliche Bildung“ (Raptis 2007, 57). Diese antike Vorstellung setzte sich in der abendländischen Bildungstradition fort. Das Humanistische Gymnasium des 19. Jahrhunderts mit den Sprachen Griechisch und Latein hatte sich die antike Kultur als Basis der Bildung auf die Fahnen geschrieben, entwickelte sich aber in der Wilhelminischen Ära zu einer Paukschule, in der die antike Bildung oft nur noch formale Bedeutung hatte und in der die Schüler durch die übermäßige Stofffülle diszipliniert wurden. Die Überforderung der Schüler führte seit den 1880er Jahren zu einer zunehmenden Schulkritik durch Pädagogen und Ärzte (Oelkers 1989, 79ff.). Schriftsteller kritisierten die Unterdrückung des Individuums und den schulischen Drill als Einübung in eine militaristische Gesellschaft (Michels 1972). Um die Jahrhundertwende (1890-1914) riefen deshalb verschiedene Bewegungen wie Jugendbewegung, Frauenbewegung, > Reformpädagogische Bewegung und > Rhythmus- und Tanzbewegung zu einer Befreiung von der geistigen Erstarrung der Wilhelminischen Gesellschaft auf.

Es kam zu einer Neubewertung der künstlerischen Fächer, die von der Kunsterziehungsbewegung ausging. Protagonist war der Hamburger Lehrer und Kunsthistoriker Alfred Lichtwark. Auf dem 1. Kunsterziehungstag entdeckte man, ausgehend von der Idee des > Schöpferischen die besondere Qualität von Kinderzeichnungen (Scheibe 1984, 144f.) und die Bedeutung der Emotionalität für den Kunstgenuss. Ab 1890 gingen Gruppen von Jugendlichen und Studierenden zu Fuß „mit Kochtopf und Klampfe“ (Klampfe = einfache Gitarre) auf Wanderfahrt und versuchten sich an einem neuen Erleben von Natur und Gemeinschaft. Das Gruppensingen gehörte von Anfang an dazu. Die Liederbücher „Der Zupfgeigenhansl“ (1909) von Hans Breuer und das „Wandervogel-Liederbuch“ (1912) von Frank Fischer sammelten ein anspruchsvolles musikalisches Repertoire (Gruhn 1993, 163ff.). Die Jugendbewegung war eine Revolte gegen die bürgerliche Gesellschaft und die Zwänge der Industrialisierung. Man entnahm deshalb das Liedgut Sammlungen des 16. und 17. Jahrhunderts, also einer vorindustriellen Kultur.

Nach dem Ende des 1. Weltkriegs versuchten sich viele Gruppierungen an einer geistigen Erneuerung der Gesellschaft. Führende Persönlichkeiten der > Jugendmusikbewegung wie F. Jöde, W. Hensel und H. Höckner idealisierten in einer rückwärts gewandten Einstellung die Zeit von etwa 1550 bis 1750 und pflegten Volkslied, Volkstanz, Madrigal und religiöse Musik. Im Repertoire der Zeitschriften „Der Musikant“, „Die Musikantengilde“ und „Hausmusik“ spiegelt sich dieses historisierende Bildungsideal (Gruhn 1993, 213ff.). Die Jugendmusikbewegung prägte damit auch den schulischen Musikunterricht. Ihr Ziel war eine nationale Musikpflege (Gruhn 1993, Kolland 1979). Für die Verbindung von chorischem Singen, von Musizieren, Tanzen und  darstellendem Spiel bekamen die Begriffe musisch, ganzheitlich und musische Ganzheit die Bedeutung einer quasi theoretischen Begründung der Laienarbeit (> Laienmusik), die vor allem von Georg Götsch in seinem Musikheim in Frankfurt/O. geleistet wurde (Götsch 1950, 130f.) und die eine ganze Generation von Musiklehrern beeinflusst hat. Die Aktivierung der Körperlichkeit als Basis von Sprache, Singen und darstellendem Spiel, sowie die Wiederbelebung von Tanztraditionen und der internationale Austausch auf einer Englandfahrt können grundsätzlich positiv gesehen werden. Mit seiner Definition der Musischen Erziehung als „eine deutsche Aufgabe“ (ebd. 122) wandte er sich aber der völkischen Ideologie zu, wie sie von H. Freyer und E. Krieck verbreitet wurde. Orff sah zunächst in dem Streben nach lebendiger Musikpraxis Berührungspunkte mit Götsch und veranstaltete 1931 im Musikheim den ersten seiner > Schulwerkkurse. Dabei wurden ihm aber die Unterschiede bewusst und er führte die Zusammenarbeit nicht weiter. Aus demselben Grund wurde auch sein Kurs in dem von Jöde geleiteten „Seminar für Volks- und Jugendmusikpflege“ 1932 in Berlin nicht wiederholt (Kugler 2000, 210ff.). Stattdessen suchte Orff den Kontakt zu den künstlerisch und soziologisch geprägten Vorstellungen von E. Preußner und veranstaltete mit ihm einen Schulwerkkurs 1932 in dem wissenschaftlich orientierten Berliner Zentralinstitut für Erziehung und Unterricht (Kugler 2000, 217ff., Hochradner 2022, 142f.).

Nach den geistigen und materiellen Zerstörungen des 2. Weltkriegs griff man Konzepte aus der Weimarer Republik auf, darunter auch das der Musischen Erziehung. O. Haases „Musisches Leben“ (1951) nimmt Bezug auf die antike Bedeutung der Musen und auf das System der Septem Artes Liberales (Die sieben freien Künste). Mit seinen Ausführungen zum Elementaren als erster Qualität des Musischen (Haase 1951, 23f.) scheitert er, wie auch einige Autoren in H. Fischers Handbuch „Musikerziehung für die Grundschule“ (Fischer 1958, 9ff. und 393ff.) an der ideologischen Enge der musischen Begrifflichkeit. Ein breiter Blick auf die Musikpädagogik der 1950er und 1960er Jahre zeigt allerdings, dass der Begriff Musische Bildung auch adäquat für künstlerische Arbeit angewendet wurde, oft mit fächerübergreifenden Arbeitsformen verbunden. Eine kritische Bewertung der Jugendmusikbewegung und der Musischen Erziehung wurde durch Theodor W. Adorno eingeleitet. Seine Kritik betraf die Gemeinschaftsideologie und die ästhetische Regression in der sog. Spielmusik. Er nannte sie ‚musikpädagogische Musik‘ und machte sie am Typus des Musikanten (Adorno 1956, Gruhn 1993) fest. Heute ist Adornos Kritik kritisch zu sehen, denn sein ästhetischer Anspruch orientierte sich einseitig an der artifiziellen Musik. Als neue Musik ließ er nur A. Schönberg und die Wiener Schule gelten, was zu der grotesken Ablehnung von I. Strawinskys Musik als reaktionär geführt hat (Adorno 1978, 127 ff.). Problematisch war auch seine Haltung zum Jazz, den er ohne fundiertes Wissen über afro-amerikanische Musik in polemischen Ton abwertete (Adorno 1955). Dennoch verunsicherte seine Kritik die schulische Musikpädagogik und führte am Anfang der 1970er Jahre zur sog. Schulmusikalischen Wende. Sie brachte grundlegende Veränderungen, die u.a. durch das Buch „Unterricht in Musik“ von Heinz Antholz eingeleitet wurden. Nach einer fundierten Kritik an der Jugendmusikbewegung und der musischen Bewegung stellt Antholz (1970, 26 ff.) einen, von ideologischen Ballast befreiten „Unterricht in Musik“ vor. Die gesellschaftlichen und pädagogischen Bedingungen werden sachbezogen formuliert und daraus das globale Ziel einer „Introduktion in Musikkultur“ (ebd. 118ff.) abgeleitet. Singen und Instrumentalspiel treten dabei zurück und Inhalte und Methoden konzentrieren sich weitgehend auf den kognitiven Zugang zur Musik. Die Folge war eine Versachlichung und Verwissenschaftlichung des Musikunterrichts, die nicht nur abstrakte Curricula zur Folge hatte, sondern auch das aktive Singen und Instrumentalspiel in den Schulen teilweise zum Erliegen brachte. Dabei wurden nicht nur musikanthropologische Fakten über die Partizipation des Menschen an der Musikkultur durch vokale, instrumentale und tänzerische Aktivitäten (C. Sachs, P. Merriam, W. Suppan, J. Blacking u.a.) ignoriert, sondern auch ein entsinnlichtes, körperloses Lernen inszeniert, wie es Horst Rumpf (Rumpf 1981) kritisiert hat. Gegen Ende der 1970er Jahre setzte „im Zeichen eines postmodernen Pragmatismus“ eine gewisse „Rückwendung zu Ideen der Reformpädagogik“ ein (Gruhn1993, 349f.), die aber jetzt vom ideologischen Ballast befreit war und sich unter dem Prinzip der Handlungsorientierung konstituierte.

 

Literaturhinweise:

 

Adorno, Theodor W.: Philosophie der neuen Musik (1949). Frankfurt/M. 1978

Adorno, Theodor W.: Kritik des Musikanten (1952) und Zur Musikpädagogik (1957), in: Ders.: Dissonanzen. Musik in der verwalteten Welt. Göttingen 1956, 62-101, 102-119.

Adorno, Theodor W.: Zeitlose Mode. Zum Jazz, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft 1955). Frankfurt/M. 1969, 144-161

Antholz, Heinz: Unterricht in Musik. Düsseldorf 1970

Fischer, Hans (Hg.): Musikerziehung in der Grundschule. Berlin 1958

Georgiades, Thrasybulos: Musik und Rhythmus bei den Griechen. Hamburg 1958

Gruhn, Wilfried: Geschichte der Musikerziehung. Eine Kultur- und Sozialgeschichte vom Gesangunterricht der Aufklärungspädagogik zu ästhetisch-kultureller Bildung. Hofheim 1993

Haase, Otto: Musisches Leben. Hannover 1951

Hochradner, Thomas: In statu nascendi – Poldi und Guter Mond oder das Gerinnen einer Idee, in: Kalcher, Anna Maria (Hg.): Orff im Wandel der Zeit. Kunst trifft Pädagogik. Wiesbaden 2022, 139-158 (Thema des Aufsatzes ist die Beziehung zwischen C. Orff und E. Preußner!)

Kolland, Dorothea: Die Jugendmusikbewegung. „Gemeinschaftsmusik“ – Theorie und Praxis. Stuttgart 1979

Kossolapow, Line: Musische Erziehung zwischen Kunst und Kreativität. Ideologiegeschichte künstlerischer Selbstaktualisierungstendenzen im Industriezeitalter. Frankfurt/M. 1975

Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Bewegungsorientierte Konzeptionen der Musikpädagogik. Frankfurt/M. 2000

Michels, Volker: Unterbrochene Schulstunde. Schriftsteller und Schule. Frankfurt/M. 1972

Oelkers, Jürgen: Reformpädagogik. Eine kritische Dogmengeschichte. Weinheim 1989

Raptis, Theocharis: Den Logos willkommen heißen. Die Musikerziehung bei Platon und Aristoteles. Frankfurt/M. 2007

Rumpf, Horst: Die übergangene Sinnlichkeit. Drei Kapitel über die Schule. München 1981

Rutschky, Katharina (Hg.): Schwarze Pädagogik. Berlin 1977

Scheibe, Wolfgang: Die Reformpädagogische Bewegung 1900-1932. Weinheim 1984 (9. Aufl.)

Warner, Theodor: Musische Erziehung zwischen Kult und Kunst. Berlin 1954

 

Copyright 2020 by Michael Kugler

Erstellt am 13.01.2020
Bearbeitet 10.2.2023