Musica Poetica (Musica Poetica. Orff-Schulwerk)

„Musica Poetica. Orff-Schulwerk“ ist der Titel einer großen > Schallplatten-Dokumentation mit zehn Platten in 2 Kassetten (1963-1975), die später in einer überarbeiteten Form auf sechs CDs (1991) erschienen ist. Eine einzelne CD mit dem Titel „Orff-Schulwerk. Musica Poetica“ wurde 1995 von Ulrich Kraus und Wilfried Hiller produziert.

Als die Schallplattendokumentation 1960 in das Stadium der Planung eintrat, bat Orff Wilhelm Keller, seinen Mitarbeiter am Orff-Institut, ihn bei der Suche nach einem neuen Titel zu unterstützen. ‚Orff-Schulwerk‘ würde zu akademisch klingen und außerdem schwer in andere Sprachen zu übersetzen sein, also der internationalen Verbreitung im Wege stehen (Keller 1988, 377). Keller schlug als Titel „Musica poetica“ vor und bezog sich damit auf die historische Bedeutung des Begriffs für eine Kompositionslehre für sprachgebundene Musik. Musica poetica geht auf den Begriff Poetik zurück, die Lehre von der Dichtkunst. In der deutschen Barockdichtung des 17. Jahrhunderts wurde „vom Dichter … gefordert, dass er seine angeborene Begabung durch das Studium der Poetik“ (Szyrocki 1968, 256) ergänzen müsse. Dieses Studium wurde auf Gymnasien und Universitäten gelehrt und prägte auch die Komposition der deutschen protestantischen Kirchenmusik, in der die Verkündigung des Worts eine Hauptrolle spielt. Der bedeutendste Komponist dieser Zeit war der musicus poeticus Heinrich Schütz, dessen Einfluss bis in die Vokalmusik Johann Sebastian Bachs reicht (Eggebrecht 1959, 32f.).

Der Anlass für Orffs Suche nach einem neuen Titel für das Schulwerk waren Fehlinterpretationen des Begriffs > Schulwerk und des Titels > „Musik für Kinder“. Vor allem der Generaltitel „Orff-Schulwerk“, der sowohl für die erste Konzeption > „Elementare Musikübung“ als auch für die zweite Konzeption „Musik für Kinder“ verwendet wurde, gab Anlass zu Missverständnissen. Der neue Titel sollte signalisieren, „dass … bei der Entwicklung des Schulwerks für die Schallplattenreihe das Wort – vom alten Kinderreim über Sprachdenkmäler bis zur Dichtung von Sophokles, Goethe und Hölderlin – immer mehr Bedeutung“ (Orff 1976, 251) bekommt.  So wie die erste Konzeption OSW „Elementare Musikübung“ von Bewegung und Tanz geprägt ist, so die zweite von der > Sprache. In Orffs Musiktheater nach den „Carmina Burana“ dominiert zunehmend die rhythmische und expressive Sprache, wie in „Die Kluge“ (1942, UA 1943), „Antigonae“ (1947/48, UA 1949) und „Die Bernauerin“ (1946, UA 1947). Orffs bairische Komödie „Astutuli“ ist ein Sprechstück mit Schlaginstrumenten und entsteht 1948 (UA 1953) gleichzeitig mit dem Beginn des Schulwerks.

Keller hat betont, das Schulwerk sei zwar keine Kompositionslehre, „darf aber doch als Beispielreihe für eine Kompositionstechnik Elementarer Musik gelten“ (Keller 1978, 378). Sowohl die gedruckte > Publikation wie auch die Tondokumentation ist also eine Sammlung von > Modellen für einen kreativen Schaffensprozess, der Improvisation wie Komposition umfasst. Die Modelle können sowohl „Vorentwurf für ein erst zu Schaffendes … als auch Reduktion eines schon Geschaffenen“ (Thomas 1977, 20) sein. Festzuhalten bleibt allerdings, dass die Satzgrundlage des OSWs eine völlig andere ist als die der musica poetica des 17. Jahrhunderts. Die Tondokumentation stellt die Verbindung zu der ursprünglichen Vermittlung durch Rundfunksendungen (> Rundfunk) her, durch die das OSW ab 1948 in die Öffentlichkeit getragen wird. Diese Tondokumente setzen auf die primären musikalischen Verhaltensweisen Hören und Nachmachen und lassen damit den ursprünglichen, vorschriftlichen Umgang mit Musik wieder aufleben. Außerdem ermöglichen die Aufnahmen ungenügend ausgebildeten Lehrer/innen die Umsetzung der publizierten Notentexte in Erklingen. Problematisch bleibt, dass Begriff und Titel „Musica Poetica“ das Schulwerk zu sehr an einen geistesgeschichtlichen und musikhistorischen Sachverhalt binden, der den am Ende der 1960er Jahren aufgebrochenen neuen pädagogischen Ideen zuwiderläuft. Der Titel Musica poetica wurde deshalb weder im deutschen Sprachgebiet noch in der internationalen Orff-Schulwerk-Rezeption heimisch.

 

Schallplatten-Dokumentation:

Die Schallplatten-Dokumentation wurde in den Jahren 1963 bis 1975 aufgenommen und erschien in zwei Kassetten zu je 5 Langspielplatten mit einem ausführlichen Kommentar von Orff-Forscher Werner Thomas. Die Gliederung der Platten folgt im großen Ganzen der fünfbändigen gedruckten Ausgabe „Orff-Schulwerk. Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54).

Außerdem ist das Repertoire mit folgenden Stücken aus dem Orff-Schulwerk > „Elementare Musikübung“ der Jahre 1932-1934 erweitert:

– Gunild Keetman: Spielstücke für Blockflöten und kleines Schlagwerk (1932). Mainz

– Gunild Keetman: Spielstücke für kleines Schlagwerk (1932). Mainz

– Gunild Keetman: Spielstücke für Blockflöten (1933). Mainz 1951

– Gunild Keetman: Tanz- und Spielstücke: Auftakt, Bolero. Mainz 1932

– Carl Orff: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933

– Carl Orff: Geigenübung. Mainz 1934

Aus späteren Publikationen:

– Carl Orff: Lieder für die Schule, H. 6. Mainz

– Gunild Keetman: Lieder für die Schule, H. 3, Mainz 1963

– Carl Orff/Gunild Keetman: Paralipomena. Mainz 1977

Ein Problem der Veröffentlichung bildete die Frage nach der Autorenschaft der zahlreichen Stücke. Für die Tantiemen der GEMA musste festgelegt werden, „für welche Stücke der Sammlung Orff und für welche Keetman als Urheber zeichnen. (…) Da kamen beide Orff-Schulwerker in Verlegenheit, da ihre Zusammenarbeit so eng war, dass sie beim besten Willen nicht mehr mit Sicherheit feststellen konnten, wer was gemacht hatte. So entschlossen sie sich, alle Lieder und Vokalstücke Orff, alle Instrumentalsätze Keetman zuzuschreiben, was den Hauptanteilen der Kollaboration einigermaßen entsprach“ (Keller 1988, 376). Die Zuschreibung aller Instrumentalsätze entspricht sicher den Tatsachen. Aber an der Zuschreibung aller Vokalsätze an Orff kann man im Hinblick auf die dazu gehörenden instrumentalen Arrangements erhebliche Zweifel haben. Schon in der Publikation > „Elementare Musikübung“ hat Keetman in ihren Instrumentalsätzen einen typischen Personalstil entwickelt, der sich von Orffs Kompositionsstil zwischen 1930 und 1948 deutlich unterscheidet (Kugler 2000, 259-268, Fischer 2009, 108-185). Das zeigen die Tonaufnahmen noch deutlicher als der Notentext. Nach dem heutigen Stand der Forschung und einer Aussage von Barbara Haselbach über Keetman, „ist ein großer Teil des SCHULWERKS der ihre“ (B. Haselbach, in: Woska 2002, 34).

Kritik an der Schallplattendokumentation ist in folgenden Punkten angebracht:

– Für die von Orff intendierte Zurückführung der als Modelle für freie Gestaltung notierten Stücke in > Improvisationen fehlen kommentierte Vorschläge.

– Dem allzu routinierten Spiel der Berufsmusiker ist anzumerken, dass sie nicht für Gymnastik und Tanz musizieren (G. Keetman zum Autor).

– Die vokale Ästhetik des Tölzer Knabenchors hat keinen Aufforderungscharakter für die von den Autoren eigentlich gewünschte Schulpraxis. Hier hätte der Einsatz von geübten Kindergruppen und Schulklassen ein motivierenderes Klangbild schaffen können. Problematisch ist das agogische Erscheinungsbild. Die übertrieben raschen und unflexiblen Tempi entsprechen zwar dem Bild Orffs als Ekstatiker, wie es der Zyklus „Trionfi“ zeigt. Das wirkt sich aber problematisch bei den Sprechtexten aus. Die Dynamik ist oft einseitig auf ein gehämmertes Marcato Fortissimo festgelegt und Details sind verwischt.

Die Dokumentation enthält auch neue Stücke von Orff und Keetman, die als Manuskript unmittelbar für die Aufnahmen geschrieben wurden. Die Schallplatte Nr. 9 ist fast ausschließlich dem Werk Keetmans gewidmet. Die Instrumentalstücke und Tänze stammen aus dem, bereits in der Günther-Schule entstandenen Schulwerk „Elementare Musikübung“. Von besonderem Interesse sind Kompositionen aus dieser Zeit, die in enger Verbindung mit den Choreographien von Maja Lex entstanden sind (Keetman 1989/2011, Kugler 2002, Fischer 2009) und die nur handschriftlich (Orff-Zentrum München) erhalten sind: „Abendlicher Tanz“, „Traumtanz“ und „Nachtlied“.

Der Kommentar von W. Thomas enthält musikwissenschaftliche und philologische Analysen zu jedem einzelnen Stück und bildet die Grundlage für sein Buch „Musica Poetica“ (1977). Diese Kommentare haben einen hohen Grad an Authentizität, denn Thomas hat sich mit Orff über Jahrzehnte in Gesprächen ausgetauscht (Thomas 1990). Aufgrund der Arbeiten von Thomas könnte die von W. Keller gestellte Frage „Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk?“ (Keller 1988) erneut gestellt werden. Die Interpretationen von Thomas lassen jedenfalls den Kunstwerk-Aspekt deutlich hervortreten.

 

CD-Dokumentation (Hermann Regner/Werner Thomas 1991):

Für die CD-Dokumentation hat Regner das Repertoire überarbeitet und neu geordnet. Einen wichtigen Beitrag zum Bild der Improvisationspraxis, wie sie von Keetman realisiert und gelehrt wurde, leisten die Stücke „Improvisation für Xylophon“, „Zwei Improvisationen“ (CD 3) und „Geschichtete Ostinati“ (CD 5).

Aus der CD-Dokumentation wurde 1991 eine Auswahl von Kompositionen Keetmans getrennt als „Keetman Collection, Aus Orff-Schulwerk Musik für Kinder“ veröffentlicht.

 

CD-Dokumentation Ulrich Kraus/Wilfried Hiller (1995):

Diese von Hiller, Orffs letztem Schüler und engstem Vertrauten künstlerisch verantwortete Dokumentation erschien zum 100. Geburtstag Orffs im Jahr 1995. Hillers Konzeption zielt ausschließlich auf modellhafte Rückverwandlung des aus der > Improvisation gewonnenen und im Sinne von Improvisationsvorlagen publizierten Schulwerkmaterials in Improvisation. Quellen sind u.a. von Keetman Stücke aus „Spielbuch für Xylophon“ (> Xylophon), aus „Stücke für Flöte und Trommel“ sowie der „Ekstatische Tanz“, von Orff aus > „Elementare Musik-Übung“, > „Klavier-Übung“, > „Geigen-Übung“, und > „Musik für Kinder“.

 

Literaturhinweise:

 

Eggebrecht, Hans Heinrich: Heinrich Schütz. Musicus poeticus. Göttingen 1959

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Keller, Wilhelm: Orffs musica poetica: Schul- oder Kunstwerk? in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.), Jahrbuch 2/1. München 1988, 375- 389

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Mainz 1977 (Der Titel „Paralipomena“ bedeutet: „Ausgelassenes, Übergangenes“, C. Orff in der Einleitung)

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 3)

Schmerda, Susanne: Kommentar zur CD-Dokumentation „Orff-Schulwerk, Vol. 1, Musica Poetica“. Tucson, Arizona 1995, Celestial Harmonies, Booklet

Szyrocki, Marian: Poetik des Barock. Reinbek 1968

Thomas, Werner: Kommentar zur Schallplatten-Dokumentation: C. Orff/G. Keetman, Musica Poetica. Harmonia Mundi. Electrola Köln 1963-1975

Thomas, Werner: Carl Orff/Gunild Keetman. Musica Poetica. Orff-Schulwerk. CD-Dokumentation. Einführung und Kommentar. Booklet.

Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977

Thomas, Werner: „Gemeinsambrüderliches …“ Erinnerungen an Carl Orff aus drei Jahrzehnten, in: Ders.: Das Rad der Fortuna. Ausgewählte Aufsätze zu Werk und Wirkung Carl Orffs. Mainz 1990

Woska, Elisabeth: „… ein jeder hat so seinen Platz“. Zeitzeugen Über Carl Orff. Eine Collage von Elisabeth Woska. Bayern 4 Klassik, Samstag 30.3.2002, Sende-Manuskript (Zitierung mit freundlicher Genehmigung von Wilfried Hiller)

 

Medien:

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musica Poetica. Orff-Schulwerk. Produziert 1963-1975, Deutsche Harmonie Mundi. EMI Electrola, Germany. 10 Langspielplatten in 2 Kassetten. Einleitung und ausführlicher Kommentar in 4 Heften: Werner Thomas.

Carl Orff/Gunild Keetman: Musica Poetica. Orff-Schulwerk. Compilation aus der Produktion von 1963-1975. BMG Music. Compact Disc 1-6 in zwei Kassetten mit Booklet (dt. engl.). Einleitung: Hermann Regner. Kommentar: Werner Thomas (Die Kommentare zur Schallplattenproduktion wurden für das Booklet gekürzt)

Orff, Carl: Orff-Schulwerk. Vol. 1 Musica Poetica. Booklet mit ausführlichem Kommentar von Susanne Schmerda (dt.-engl.). Produced by Ulrich Kraus and Wilfried Hiller. Tucson, Arizona 1995, Celestial Harmonies. Diese CD gehört zu einer Produktion von drei CDs mit dem Untertitel: The First Digital Recording in Commemoration of the 100th Birthday of the Composer, Produced in Cooperation with His Estate, and Featuring Performers Who Had Worked with Orff During His Lifetime. Vol. 2: Carl Orff: Orff-Schulwerk. Musik für Kinder. 1995. Vol. 3: Carl Orff: Orff-Schulwerk. Piano Music. 1996 (enthält Klavierkompositionen seiner zweiten Frau Gertrud Orff-Willert).

 

Keetman, Gunild: Keetman Collection. Orff-Schulwerk. Musik für Kinder. Music for Children. CD Harmonia Mundi Freiburg 1991. Booklet mit Quellenangaben: Hermann Regner (dt.-engl.)

 

Archivmaterial Orff-Zentrum München: Keetman, Gunild: „Traumtanz“. Manuskript

Keetman, Gunild: „Abendlicher Tanz“. Manuskript

 

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Bearbeitet am 04.04.2023