Mit dem Terminus Malagueña, abgeleitet vom Namen der andalusischen Stadt Malaga, wird ein Tanz der andalusischen Flamenco-Tradition bezeichnet, vor allem aber ein ostinates Akkordschema (Pattern), das in der Musik des Mittelmeerraums der vokalen und instrumentalen Musikgestaltung dient. Über dem absteigenden Quartbass a – g – f – e liegen die parallel ausgeführten Akkorde A-moll, G-dur, F-dur und E-dur (auch E-moll). Das Malagueña-Schema ist eine Klangformel des Elementaren Klangsatzes (> Klang), die ein Gerüst für die Improvisation vorgibt, über der immer neue melodische Verläufe improvisiert werden können. Im Musiktheater der Barockzeit bildet die absteigende Basslinie „als Lamentobass die Grundlage zahlreicher Arien“ (Thomas 1977, 108).
In der folkloristischen Gitarrenmusik der iberischen Halbinsel entspricht die Klangfolge den entsprechenden Barré-Griffen A-moll, G-dur, F-dur, E-dur. Eine wichtige Rolle spielt diese in der Musik der Flamenco-Kunst. Es liegt deshalb nahe, in der Praxis des Schulwerks den Stabspielen die perkussiv gespielte Gitarre an die Seite zu stellen, weniger wegen einer folkloristischen Wirkung, sondern um den Klang der Stabspiele mit dem perkussiven Klang eines Saiteninstruments zu bereichern (> Perkussion). Über dem Klangschema entfaltet sich die melodische Improvisation mit den schier unbegrenzten melodischen Gestaltungsmöglichkeiten auf der Basis der > Modi, die die Musikwelt des Mittelmeerraums bestimmen.
Carl Orff hat offenbar mit der Malagueña-Quart bereits in seinen > Schulwerkkursen der beginnenden 1930er Jahre experimentiert, denn sie findet sich in seiner persönlichen Vorbereitung (Orff 1932) zu der ausdrücklich als „Versuchsabend“ bezeichneten Abendveranstaltung am 25.6.1932 im Rahmen der „Musikpädagogischen Studienwoche“ an der Württembergischen Hochschule für Musik in Stuttgart vom 20.-26. Juni 1932 (Programm: Orff-Zentrum München). Notiert ist folgender Ablauf (Originaler Wortlaut):
Versuchsabend:
Orchester- und Chorimprovisation
- Orchester (klein)
- Chor Malagena (Originalschreibweise, MK)
- Chor mit Orchester (Coloraturen) (schwing. Ton)
Rondoimprovisation mit Chor und Orchester
- Bettlerlied
- Schlager (D)
Das Heft > „Rhythmisch-melodische Übung“ des ersten Schulwerks > „Elementare Musikübung“ (Orff 1933, 35) enthält als Nr. 69 einen Malagueña-Bass (ohne Bezeichnung), über dem eine Oberstimme als > Modell für die Improvisation notiert ist. Da in dem erwähnten Programm auch von „Summ-, Klatsch- und Stampfchor“ die Rede ist, wurde dieses Beispiel sicher auch mit Vokalisen ausgeführt.
Im Orff-Schulwerk > „Musik für Kinder“ finden sich mehrere Stücke über einem Malagueña-Bass, aber ohne diese Bezeichnung:
– „Es ist die wunderschönste Brück“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 4, 43f.) mit den auf der Vokalise „Ah“ ausgeführten absteigenden Dreiklängen A-moll, G-dur, F-dur, E-moll, in Äolisch und deshalb ohne Dur-Akkord auf e. Dazu rezitiert eine Singstimme den Rätseltext auf die Töne e und d.
– „Es geht ein dunckle Wolcken rein“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 4, 135f.) ist ein Lied aus dem 16. Jahrhundert im äolischen Modus, hier transponiert auf g. Das ergibt in diesem Stück ein Klanggerüst aus leeren Quinten: g-d, f-c, es-b, d-a. Eine weitere Bearbeitung des Liedes in einem ungewöhnlichen Arrangement mit Bläsern findet sich in „Paralipomena“ (Orff/Keetman 1977, 52f.), dem letzten Nachtrag zum Orff-Schulwerk > „Musik für Kinder“.
– Drei Stücke für Schlaginstrumente und Blockflöte mit ausführlichen Modellen für die improvisierte Ausgestaltung der Melodiestimme (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 4, 138-145), die Keetman zuzuordnen sind.
Zu dem Stück „Es ist die wunderschönste Brück“ hat Rainer Kotzian (2016, 64-71) eine ausführliche methodische Anleitung entworfen, in der auch der tänzerische Aspekt sowie der Bezug zum Flamenco thematisiert wird.
Ein Transfer für den Bereich den Musikhörens ergibt sich einerseits durch Stücke der Gitarristen der Flamenco-Musik wie Paco de Lucia, Pepe Romero u.a. sowie andererseits durch die Musik spanischer Komponisten wie Isaac Albéniz, Enrique Granados und Manuel de Falla. Die aktive, handwerkliche Aneignung des Malagueña-Schemas ermöglicht dessen Wiederauffinden bzw. hörendes Wiedererkennen in kompositorischer Verarbeitung und schult damit die Fähigkeit zu einem differenzierten Hören. Außerdem wird dadurch ein Erkunden von Musikarten möglich, die den Kindern und Jugendlichen meist nicht zugänglich sind.
Literaturhinweise:
Kotzian, Rainer: Das Orff-Schulwerk neu entdecken. Spieltücke und Unterrichtsmodelle. Mainz 2016 (mit DVD und App)
Orff, Carl: Versuchsabend. Typoskript 1932. Archiv Orff-Zentrum München
Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde. Mainz 1950-54
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Orff-Schulwerk „Musik für Kinder“. Mainz 1977
Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977
Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010
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