Gassenhauer

Der Titel „Gassenhauer“ im 3. Band des Orff-Schulwerks > „Musik für Kinder“ stellt „Variationen über einen Lautensatz von Hans Newsidler (1536)“ dar, so die Quellenangabe im Anhang (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 3, 125). Newsidler, auch Neusidler (1508-1563) war ein bekannter Lautenist des 16. Jahrhunderts, der in Nürnberg wirkte und mit mehreren Lautenbüchern für den Selbstunterricht hervortrat. Die Musik war in der deutschen Lautentabulatur notiert, einer Griffschrift, die die Saiten der Laute, den gespielten Bund und die rhythmischen Werte abbildet. Sein „New geordnet künstlich Lautenbuch“ von 1536, aus dem der „Gassenhawer“ stammt, wurde ein kommerzieller Erfolg, sodass Newsidler mehrere Bände folgen ließ. Die Musik für Klavierinstrumente und Lauten im 16. Jahrhundert übertrug nicht nur den polyphonen Satz auf die Instrumente, sondern kreierte auch eine aus der Grifftechnik des Instruments abgeleitete Struktur, in denen kompakte Klänge ohne Rücksicht auf Stimmführung das Erscheinungsbild prägten (Kugler 1975). Das gilt vor allem für die Tanzsätze.

Unter dem Begriff Gassenhauer verstand man bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts ein populäres Lied mit simpler Melodiestruktur, das verbreitet auf der Gasse (= Straße) vom einfachen Volk gesungen wurde. Im deutschen Sprachgebrauch existiert das Wort Gassenhauer oft parallel zu Bänkellied und Küchenlied bis in die 1920er Jahre. Es verschwindet und wird durch den strukturell und musiksoziologisch anders definierten Begriff Schlager abgelöst.

Orff hat die Vorlage von Neusidler sicher im Rahmen seines Selbststudiums der > Alten Musik entdeckt. 1927 befreundet er sich mit dem Münchner Lautenisten Heinz Bischof und arbeitet sich durch Quellenstudium und musikwissenschaftliche Publikationen in die Lautenmusik des 16. Jahrhunderts ein. Das Ergebnis dieser Phase ist die Komposition „Kleines Konzert für Cembalo, Flöte, Oboe, Fagott, Trompete, Posaune und Schlagwerk nach Lautensätzen aus dem sechzehnten Jahrhundert“ (Orff 1975, 126ff.), uraufgeführt 1928 in München.

Form: Der „Gassenhauer“ besteht aus acht Wiederholungen eines 24-taktigen Klang-Ostinato mit dem Schema: C C F F C C G G / C C F F C G C C / F G C C F G C C //

Melodie: Gehämmerter Verlauf aus den Tönen g und a, verschiedenartig durch ostinate Melodiefloskeln und Klangbrechungen variiert.

Dynamik: Die effektvolle Steigerung des Stücks entsteht durch die stufige Zunahme pp – p – mf – f – ff und die zunehmende Verdichtung des Satzes.

Die tänzerische Dynamik beruht auf dem jambischen Rhythmus o – / o – /

Instrumente:

2 Sopranxylophone, 2 Altxylophone, 3 Pauken in C F und G, Diskantflöte f‘‘, Castagnetten, Schellentrommel, kleine Trommel.

Rainer Kotzian hat zum „Gassenhauer“ eine ausführliche, differenzierte didaktische Skizze vorgelegt (Kotzian 2016, 52-57), die diesem Klassiker des Orff-Schulwerks den Weg in die Unterrichtspraxis auf kreative Weise bahnt. Kotzians Idee besteht darin, den Gassenhauer, also ein Stück, „das sogar in zahlreichen Kinofilmen verwendet und zitiert wird, z.B. in ‚Badlands‘ (1973), ‚True Romance‘ (1993), ‚Finding Forester‘ (2000) und sogar in einer Folge von ‚The Simpsons‘ (2011)“ (Kotzian 2016, 52) auftaucht, in Beziehung zur Straßenmusik in New York City zu setzen und ihm dadurch einen aktuellen Bezug zu geben. Außer dem methodischen Verlauf werden Übe- und Gestaltungsmöglichkeiten zu den Aspekten „New-York-Klänge“, Tanzgestaltung, Arrangieren sowie Hören und Malen thematisiert.

 

Literaturhinweise:

 

Kotzian, Rainer: Das Orff-Schulwerk neu entdecken. Spielstücke und Unterrichtsmodelle. Mainz 2016 (mit DVD und App)

Kugler, Michael: Die Musik für Tasteninstrumente im 15. und 16. Jahrhundert. Wilhelmshaven 1975

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde., Mainz 1950-54

Orff, Carl: Lehrjahre bei den Alten Meistern. Tutzing 1975 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 2)

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