Elementarer Klangsatz / Klangsatz / Klang
In Orffs Terminologie dient der Begriff Klang zum einen dazu, dem Spiel auf > Perkussionsinstrumenten einen ästhetischen Rang zu geben. Zum anderen steht der Begriff Klang im engeren Sinne für das vertikale Bauprinzip der Musik. Die Entdeckung der Perkussionsinstrumente fremder Kulturen für sein künstlerisches und pädagogisches Werk verlangte von Orff eine Abgrenzung vom Begriff Geräuschinstrumente. Perkussionsinstrumente ohne bestimmbare Tonhöhe wurden im > Ausdruckstanz allgemein als Geräuschinstrumente bezeichnet. Dazu existierten die Begriffe Geräuschorchester, Geräuschmusik und Geräuschrhythmik (Kugler 2000, 176), mit denen eine ästhetische Abwertung der Perkussionsinstrumente gegenüber dem Instrumentarium der Kunstmusik verbunden war. Wenn man von der künstlerischen Verwendung der Perkussion bei M. Wigman absieht, dann dominierte bei der Verwendung kulturfremder Perkussionsinstrumente in den Schulen der > Rhythmus- und Tanzbewegung eine weitgehend dilettantische Praxis. Orff machte deshalb schon 1932 während seinen > Schulwerkkursen darauf aufmerksam, „welch verheerender Unfug mit diesen primitiven Instrumenten getrieben wird“ (Orff 1932, in: Kugler 2002, 181). Er lässt keinen Zweifel daran, dass „Arbeit und Hingabe“ erforderlich sind, um „auf diesen primitiven Instrumenten vom Geräusch zum Klang zu kommen“ und „einzutauchen in die Magie des Klanges, in die differenzierten Klangwerdungen und Erscheinungen“ (Orff 1932/33, in: Kugler 2002, 188). Dabei ist zu betonen, dass der Begriff > Primitive Instrumente von Orff aus der > Musikethnologie seiner Zeit übernommen wurde und eine positive Konnotation hat. Schon in seinem ersten Aufsatz fordert Orff ein differenziertes Ensemblespiel mit Schlaginstrumenten: „Leises Spiel mit den unsagbar vielen Klangnuancen ist die Grundlage eines solchen Orchesters, und dieses Spiel entwickelt und verfeinert das rhythmische sowie das Klangempfinden“ (Orff 1930/31, in Kugler 2002, 171).
Klang im engeren Sinne meint Zusammenklänge von Klangerzeugern mit bestimmbarer Tonhöhe. Der Begriff Klang steht übergreifend für vertikale Phänomene und bezieht auch den zwischen Naturklang und Musik stehenden Klang von Gläsern (> Gläserspiel) und Glocken (> Glockenspiel) ein. Glocken sind ein musikanthropologisch bedeutsames Phänomen. Sie signalisieren im sozialen, religiösen, kultischen und magischen Kontext die Verbindung des Menschen mit einer höheren Wirklichkeit (Rault 2000, 33ff.). Die auf Skalen abgestimmten Glockenspiele stellen den Glockenklang in den Dienst künstlerischen Handelns und spielen im OSW eine wesentliche Rolle. Der Glockenklang findet sich als künstlerisches Material in Orffs „Entrata“ (1928) nach W. Byrds „The Bells“ und im Schulwerk in den Stücken „Drei Wolken am Himmel“ und „Carillon de Vendôme“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 1, 44f., Bd. 3, 22f).
Der Begriff Klang unterscheidet sich vom Begriff Akkord, der erst seit dem Generalbasszeitalter eine Berechtigung hat und zum zentralen Terminus der klassischen Harmonielehre wurde. Orff ist hier musikhistorisch geprägt, denn seine Beschäftigung mit der sog. > Alten Musik brachte ihn in Kontakt mit dem Organum des hohen Mittelalters (Notre-Dame-Schule), der Venezianischen Mehrchörigkeit des 16.Jahrhunderts (A. und G. Gabrieli), der Tastenmusik des 16. Jahrhunderts mit ihrer improvisatorische Gestaltung mit Klanggriffen (W. Byrd, Fitzwilliam Virginal Book) und mit der klangsetzenden Technik des frühen Generalbasszeitalters, vor allem bei Cl. Monteverdi.
In Orffs Musikbegriff und Kompositionsstil geht die Klangvorstellung vom > Klavier aus. Schon in der Partitur der frühen Werfel-Kantaten (1929/30), die in Orffs Zeit an der > Günther-Schule entstanden sind, geben drei Klaviere die Klangbasis an. Sie fungieren „als Träger eines nicht mehr harmonischen, sondern klangtektonischen Fundaments“ (Thomas 1975, 189). Die Klaviere „sind ganz als Perkussionsinstrumente behandelt“ und „errichten, vom Schlagwerk gestützt (…) Klangsäulen aus Oktaven, Quinten, Quarten und Sekunden, die sich über die ganze Klaviatur ausspannen“ (ebd. 192). Der Musikwissenschaftler J. Maehder spricht deshalb von einem „Klavier-plus-Schlagzeug-Orchester“ (Maehder 2015, 203), ein Kompositionsstil, der von I. Strawinskys „Les Noces“ angeregt ist. Orffs Klanggebilde ergeben sich weder aus Stimmführungen noch aus quasi harmonischen Akkordwechseln. Es sind starre, monophone Fundamentklänge, die sich mit Einschränkungen auch als > Bordune interpretieren lassen. Wenn Orff am Klavier improvisierte, dann „waren es für uns fremdartige Klänge“, „eine oft hart anmutende Musik, in der Quinten und Quarten, auch Sekunden dominierten, in der keine kadenzierenden Abschlüsse, selten Dreiklänge vorkamen“, so seine Schülerin G. Keetman (Keetman 1978, in: Haselbach 2011, 53). Auch nach der Einführung der Stabspiele hielt Orff an dem Pflichtfach Klavierimprovisation fest, weil aus seiner Sicht „nur auf diesem Instrument die Erschließung großer Klangräume möglich war“ (Orff 1976, 49).
Thomas nennt diese Satzstruktur, die auf statischen Fundamentklängen beruht, Klangsatz (Thomas 1977, 95ff.). Der Klangsatz formt sowohl die großen Kompositionen Orffs als auch Orffs und Keetmans Beiträge zum Schulwerk. Für das Schulwerk verwendet Thomas den Terminus Elementarer Klangsatz, um damit die handwerklichen Entstehungsprozesse zu betonen. An Satztechniken unterscheidet er Fundament- und Gerüstbildungen und Melische Bildungen. Zur ersten Gruppe gehören > Bordun, > Ostinati, Hornquinten und > Malagueña, zur zweiten Gruppe umspielte Terzen, > Paraphonie (Parallelklänge), Mixturen, > Diskantieren und Kolorieren. Die Technik der Anwendung besteht aus einer kreativen Arbeit, durch die das Potential kleiner rhythmischer, melodischer oder klanglicher Gestalten entfaltet wird, wie sie Orff in der > „Rhythmisch-melodischen Übung“ (Orff 1933) für die Improvisation zusammengestellt hat. Orff und Thomas nennen dieses vorformulierte, bausteinhafte Material > Modelle. Eine wichtige Rolle spielt bausteinhaftes Klangmaterial bei der „Musikalisierung von Sprache“ (Thomas 1977, 125) in Kleinformen wie Spruch, Märchensprüchen, Rätseln und in Lyrik. Dabei findet keine Vertonung der > Sprache statt, sondern eine Inszenierung der rhythmisierten oder freirhythmischen Sprache durch Klänge und Klangformeln. Das belegen folgende Beispiele:
– Bauernregel „Wenn der Tag beginnt zu langen“ (Orff/Keetman, Bd. II, 60)
– Märchensprüche (Orff/Keetman, Bd. IV, 88 ff.)
– Wetterregeln (Orff/Keetman, Bd. IV, 17ff.)
– Drei Stücke aus dem Wunderhorn (Orff/Keetman, Bd. IV, 69ff.).
– „Das arm Kind“ von Georg Büchner (Orff/Keetman 1977, 58ff.).
Die Schlüsselfigur für die Gestaltungsmöglichkeiten des elementaren Klangsatzes im Schulwerk ist G. Keetman. Erarbeitet hat sie diese minimalistische Kompositionstechnik bereits in ihren Tanzkompositionen für die Günther-Schule und in ihrer Instrumentalmusik für das erste Orff-Schulwerks > „Elementare Musikübung“ (Fischer 2009, 108ff.). Der elementare Klangsatz Keetmans baut auf dem Bassfundament einen Gerüstsatz aus einem Quint-Oktavklang, der aus drei Schichten besteht (Kugler 2000, 267):
– Melodisch-klangliche Schicht (Blockflöten, Stabspiele)
– Rhythmisch-perkussive Schicht (Schlaginstrumente ohne bestimmte Tonhöhe)
– Fundamentschicht (meist mehrer Pauken)
Beispielhaft für dieses improvisationsnahe Konstruktionsprinzip stehen mehrere „Geschichtete Ostinati“ in Keetmans didaktischer Publikation „Elementaria“ (Keetman 1970, 78-85) und ihr pentatonisches Stück „Geschichtete Ostinati“ in den > „Paralipomena“ (Orff/Keetman 1977, 18f.). Das substanzielle Konstruktionsmerkmal bilden Ostinatoformeln, „die als rhythmische Bauteile in repetitiver Reihung angeordnet werden (Fischer 2009, 163). Selbstverständlich sind die aufgezeichneten Strukturen als Exempla für veränderte Versionen durch die Einführung immer neuer repetitiver Bauteile gemeint. Sie bieten für die Gruppenimprovisation viele Möglichkeiten, das vertikale Phänomen Klang von verschiedenen Seiten her zu erkunden. Außerdem bieten die geschichteten Ostinati eine hervorragende Basis für eine kreative Melodieproduktion. Keetman hat in ihren Kompositionen für die „Elementare Musikübung“ und die „Musik für Kinder“ selbst Modelle bereitgestellt:
– Fundamentklang auf einer Stufe mit zwei bis vier Pauken, Klangschicht aus Stabspielen, rhythmisches Gitter aus kleiner Perkussion (Keetman 1953, 3ff., 16ff.)
– Fundamentklang auf zwei ostinat alternierenden Stufen: „Klang-Ostinati“ mit skizzierten Improvisationsmöglichkeiten (Orff/Keetman, Bd. IV, 108ff.), „Klangstück“ mit stufenweise zunehmender Klangverdichtung (Orff/Keetman Bd. IV, 118ff.)
– Meditative Melodiezüge mit Blockflöten (Keetman 1951, 18ff., 24ff.)
Es gibt keinen Zweifel, dass Keetman hier einen eigenständigen Personalstil mit minimalistischen Strukturen entfaltet hat, der sich deutlich von dem Orffs unterscheidet.
Literaturhinweise:
Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009
Haselbach, Barbara (Hg.): Basistexte zum Orff-Schulwerk: Beiträge aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011 (Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks Bd. 1)
Keetman, Gunild: Spielstücke für Blockflöten I (1932). Mainz 1979
Keetman, Gunild: Spielstücke für kleines Schlagwerk (1931). Mainz 1953
Keetman, Gunild: Elementaria. Erster Umgang mit dem Orff-Schulwerk. Stuttgart 1970
Kugler, Michael: Die Methode Jaques-Dalcroze und das Orff-Schulwerk Elementare Musikübung. Frankfurt 2000
Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002
Maehder, Jürgen: Die Dramaturgie der Instrumente in den Antiken-Opern von Carl Orff, in: Rösch, Thomas (Hg.): Text, Musik, Szene – Das Musiktheater von Carl Orff. Mainz 2015, 197-229
Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Orff-Schulwerk. Musik für Kinder. 5 Bde. Mainz 1950-54
Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Paralipomena. Mainz 1977
Rault, Lucie: Vom Klang der Welt. Vom Echo der Vorfahren zu den Musikinstrumenten der Neuzeit. Aus dem Französischen von L. Fehrenbach. München 2000
Thomas, Werner: Der Weg zum Werk, in: Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 1. Tutzing 1975, 73-247
Thomas, Werner: Musica Poetica. Gestalt und Funktion des Orff-Schulwerks. Tutzing 1977 1977
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