Orffs intuitive Idee des > Elementaren entspringt einer künstlerischen Vorstellung. Ihre Konkretisierung im Konzept der > Elementaren Musik erfolgte durch Anregungen aus dem > Ausdruckstanz (Mary Wigman) und aus der > Musikethnologie (Curt Sachs). Die Vorstellung vom Elementaren enthält einerseits die Suche der Künstler nach dem Uranfang künstlerischer Produktion, wie sie den Expressionismus beherrschte (Kossolapow 1975, 60ff.) und das Aufsuchen des > Schöpferischen, der schöpferischen Kräfte, die diesen Neubeginn ermöglichen sollten. Die Bezeichnungen Improvisation und Komposition, die Wassily Kandinsky mehreren Bildern gegeben hat, weisen auf das Prozesshafte in der Idee des Elementaren hin, wie bereits der mit Orff befreundete Musikpädagoge Eberhard Preussner (1964, 70f.) gezeigt hat.
Der Begriff des Elementaren spielt in der Theoriebildung am 1919 gegründeten Bauhaus eine bedeutende Rolle. In der Bauhaus-Pädagogik tritt mit dem Werkstatt-Prinzip eine neue Vermittlungsform an die Stelle der klassischen Akademie. Der Unterricht beginnt mit einer Werklehre, in der die Lehrlinge Kontakt mit dem grundlegenden Material Holz, Metall, Gewebe, Ton, Stein, Glas und Farbe auf der Basis einfachster Aufgaben Kontakt aufnehmen. Johannes Itten, der am stärksten die expressionistische Richtung am Bauhaus verkörpert, eröffnete seinen Unterricht mit gymnastischen Übungen, um „dem Körper die Ausdrucksfähigkeit, die Erlebnisfähigkeit zu geben, sie in ihm zu erwecken. Zuerst muss er erleben“ (Wick 1982, S. 88). Diese Betonung von Körper, Ausdruck und Erlebnis zeigt sich sowohl in der > Rhythmus- und Tanzbewegung wie im Expressionismus. Laszlo Moholy-Nagy entwickelte eine „Allgemeine Elementenlehre“ (ebd. S. 141). Man sprach von einer „Transformation der materiellen Elemente der Industriekultur in bildnerische Elementarkategorien wie Fläche, Farbe, Raum und Licht“ (ebd. 125). Kandinsky, seit 1922 Lehrer am Bauhaus, strebte nach einem „Elementarwörterbuch“, um von dort zu einer „Grammatik“ und weiter zu einer „Kompositionslehre“ zu kommen (Wick 1982, 125, 177). Seine Formenlehre „umfasst die Untersuchung der elementaren Bildmittel Punkt und Linie und der drei Grundformen, die aus diesen Elementen entstehen, nämlich Kreis, Dreieck und Quadrat“ (Wick 1982, 197). Die Vorstellung einer „Urkomposition: der Punkt im Zentrum des Quadrates“ (ebd.), bildet ein theoretisches Konstrukt im Zusammenhang mit Kandinskys Wendung zur Abstraktion. Diese, von mathematischer und esoterischer Theorie beeinflusste Vorstellung Kandinskys ist dem Orffschen Verständnis des Elementaren in Sprache, Musik und Bewegung fremd. Orff geht nicht von abstrakten Urelementen aus, sondern von konkreten Mikrostrukturen künstlerischer Prozesse wie rhythmischen, melodischen, klanglichen und sprachlichen Patterns (> Ostinato) oder gestischen und tänzerischen Bewegungen.
Dennoch finden sich frappierende Parallelen zwischen Bauhaus und > Günther-Schule bzw. dem Orff-Schulwerk > „Elementare Musikübung“. Itten hält bei der Eröffnung des Bauhauses am 21. März 1919 in Weimar einen Vortrag über „Die Lehre der alten Meister“ (Droste 1919, 48) und integriert in seinen Unterricht Analysen von Bildern alter Meister. In diesem Jahr beginnt Orff seinen kompositorischen Findungsprozess mit einem Studium > Alter Musik, die er „Lehrjahre bei den alten Meistern“ (Orff, Lehrjahre 1975) nennt. Im Hinblick auf den geistigen Hintergrund fällt auf, dass Walter Gropius, der Gründer des Bauhauses, seine Konzeption auf die gotische Kathedrale und ihre Bauhütte bezieht und Orff sich in der gleichen Zeit mit der Musik des Mittelalters und der Renaissance befasst. Auf Ittens Wunsch kam die Musikpädagogin Gertrud Grunow an das Bauhaus, die unter dem Einfluss der > Methode Jaques-Dalcroze stand, die sie in > Hellerau kennen gelernt hatte (Droste 2019, 69f.). Sie arbeitete mit ihrer Harmonisierungslehre im Einzelunterricht vom Klavier aus und bezog Konzentrations- und Bewegungsübungen ein. Ihre Vorstellung, „dass nur der harmonische Mensch schöpferisch sein könne“ (ebd.) ist von Dalcroze beeinflusst. Dorothee Günthers Vorstellung vom rhythmischen Menschen (Günther 1932) gehört in dieses Umfeld.
Die musikalischen Aktivitäten am Bauhaus hatten zwei Schwerpunkte, die Musik der Moderne und den > Jazz. In einem Konzert 1923 wurden Werke von Ferrucio Busoni und Paul Hindemith aufgeführt (Droste 2019, 237) sowie von Igor Strawinsky und Arnold Schönberg. Außerdem diskutierte man über die Zwölftontechnik von Schönberg und Matthias Hauer (Stuckenschmidt 1985, 410f.). Im Kontrast dazu schrieb Lyonel Feininger Fugen nach dem Vorbild von Bach und Händel während Paul Klee, der ein hervorragender Geiger war, Mozart am meisten schätzte. Überhaupt spielt in Klees Werk die Musik eine große Rolle, von der Vorstellung von Rhythmus und Klang in der Bildgestaltung bis zu notationsähnlichen graphischen Strukturen (Düchting 2001). Die musikalischen Improvisationen am Bauhaus reichen von Klangaktionen bis zur improvisatorischen Erarbeitung einer Musik zum „Mechanischen Ballett“, die Hans Heinz Stuckenschmidt für die Aufführung in Notation festhielt. Die Bauhaus-Kapelle mit Trompete, Klarinette, Posaune, Klavier und Schlagzeug (Fotos: Stuckenschmidt 1985, 411, Schleiermacher 2019, 41) „galt zu ihrer Zeit als eine der temperamentvollsten Jazzbands in Deutschland“ (Stuckenschmidt 1985, 413). Sie spielte auch auf Bauhausfesten zum Tanz auf.
Die Tanzwerke am Bauhaus, das „Triadische Ballett“ und das „Mechanische Ballett“ spiegeln allerdings eine völlig andere ästhetische Konzeption als die Choreographien der > Günther-Schule. Das visuelle Erscheinungsbild ist stark von geometrischen bzw. kubischen Formen bestimmt (Droste 2019, 328-331). Die Bewegungsstrukturen des „Mechanischen Balletts“ bestanden größtenteils aus ruckartigen und technisch-maschinenhaften Abläufen, mit denen man „das Prinzipielle des Maschinenwesens“ darstellen wollte, weshalb man einen konstanten Rhythmus wählte, „um die Monotonie des Maschinenmäßigen zu unterstreichen“ (Kurt Schmidt, zit. Droste 2019, 224). Man kann vermuten, dass von Oskar Schlemmers „Stäbetanz“ (Foto: Droste 2019, 335) für die Günther-Schule die Anregung ausging, mit Stäben zu improvisieren. Das Ergebnis im „Stäbetanz“ in dem Tanzwerk > „Barbarische Suite“ (1930) von Maja Lex ist allerdings ein völlig anderes. Während Schlemmers Prinzip geometrische Starre ist, lebt die Choreographie von Lex aus fließenden, quasi organischen Bewegungen wobei die Stäbe sowohl eine tänzerische wie eine rhythmisch-musikalische Funktion haben.
Die einzige unmittelbare Beziehung zwischen dem Orff-Schulwerk „Elementare Musikübung“ und dem Bauhaus ergibt sich aus der kurzzeitigen Arbeit von Ludwig Hirschfeld-Mack an der Zweigstelle der Günther-Schule in Berlin. Hirschfeld-Mack hatte 1924 am Bauhaus Weimar die Gesellenprüfung für Lithographie abgelegt und befasste sich u.a. mit experimentellen „Reflektorischen Lichtspielen“ (Wick 1932, 120). In Berlin gab er Unterricht in der Werkstatt für > Instrumentenbau. Solch eine Werkstatt hatte bereits Gunild Keetman an der Günther-Schule München gegründet (Kugler 2002, 267), denn in Orffs Konzept der Elementaren Musik sollte im Sinne der, in der Pädagogik der Weimarer Republik verbreiteten Werkidee, der Instrumentalist durch Selbstbau über die Beschäftigung mit dem Material eine sinnenhafte Beziehung zum Instrument aufbauen (Kugler 2002, 191f.). Als Ergebnis der Arbeit von Hirschfeld-Mack in Berlin war in der Publikationsreihe > „Elementare Musikübung“ ein Bastelbuch zum Selbstbau von Instrumenten geplant (Twittenhoff 1935, 24). Dieses Heft ist nicht mehr erschienen, was auf die Emigration von Hirschfeld-Mack 1936 nach England und auf die Einstellung der Publikationsreihe beim Schott-Verlag zurückzuführen ist.
Literaturhinweise:
Droste, Magdalena: Bauhaus 1919-1933 (1990). Köln 2019
Düchting, Hajo: Paul Klee. Malerei und Musik. München 2001
Günther, Dorothee: Der rhythmische Mensch und seine Erziehung (1932), in: Kugler 2002, 144-150 und in Haselbach, Barbara (Hg.): Basistexte zum Orff-Schulwerk: Beiträge aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011, 78-94 (Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks, Bd. 1)
Kossolapow, Line: Musische Erziehung zwischen Kunst und Kreativität. Frankfurt/M. 1975
Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002
Orff, Carl: Lehrjahre bei den alten Meistern. Tutzing 1975 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 2)
Preussner, Eberhard: Der Einbruch des Elementaren in Kunst und Pädagogik, in: Orff-Institut an der Akademie „Mozarteum“ Salzburg (Hg.): Jahrbuch 1963. Mainz 1964, S. 67-72
Schleiermacher, Steffen: Musik am Bauhaus, in: Crescendo, März 2019, S. 41-42
Stuckenschmidt, Hans Heinz: Musik am Bauhaus, in: Maur, Karin von (Hg.): Vom Klang der Bilder. Die Musik in der Kunst des 20. Jahrhunderts. München 1985, S. 408-413
Twittenhoff, Wilhelm: Einführung in Grundlagen und Aufbau. Orff-Schulwerk. Mit Beiträgen von Dorothee Günther und Hans Bergese. Mainz 1935
Wick, Rainer: Bauhaus-Pädagogik. Köln 1982
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Bearbeitet am 05.04.2023