Orffs Beziehung zur bairischen Tradition war stark ausgeprägt. In > München 1895 geboren, erlebt er als Kind die bairische Kultur der Stadt verbunden mit der Dialektversion des Müncherischen. In den Ferien in Unteralting (bei Dießen, Ammersee) lernen er und seine Schwester von der Köchin der Familie nicht nur den „völlig unverfälschten Dialekt“ (Orff 1975, 36) kennen, sondern hören auch alte Volksmärchen und derbe Sprüche. Seine große Liebe zu seiner Geburtsstadt > München ist bekannt. Schon als Vierjähriger darf er mit dem Vater auf die Wiesn (Oktoberfest) und lernt dort das Kasperltheater kennen. Zu den katholisch geprägten Traditionen gehören der Kripperlmarkt auf dem Marienplatz, in den Kirchen die Krippendarstellungen der Weihnachtszeit und die Darstellung des Heiligen Grabes in der Karwoche. Diese religiöse Welt bringt Orff in seinen Mysterienspielen „Ludus de nato Infante mirificus – ein Weihnachtsspiel“ (1960) und „Comoedia de Christi Resurrectione – Ein Osterspiel“ (1956) auf die Bühne. Zur Tradition gehört auch das Münchner Marionettentheater, das der kleine Carl 1901 zum ersten Mal besuchen durfte. Die Auswirkungen dieser typisierenden Theaterwelt im Kleinformat sind in den Stücken „Der Mond“, „Die Kluge“ und „Astutuli“ zu finden. Die große Hommage an München ist „Die Bernauerin“ mit dem Untertitel „Ein bairisches Stück“, das teilweise in München spielt.
Vertieft wurde diese Prägung durch die fachliche und freundschaftliche Beziehung zu dem Musikwissenschaftler Kurt Huber, der sich vor allem der Volksmusiksammlung verschrieben hatte. Seit 1934 bearbeitete Orff mit Huber bairische Volksmusik u.a. auch für den Reichssender München (Rösch 2021, 29). 1939 zog er mit seiner zweiten Frau Gertrud Orff nach Gräfelfing (bei München) ganz in die Nähe von Huber und tauschte sich mit ihm oft über seine Kompositionen und über bairische Volksmusik aus. Von Huber wurde er auch auf „die seit dem 18. Jahrhundert überlieferte Ballade ‚Von der schönen Bernauerin‘ aufmerksam“ (Grill 2021, 152), die Orff in den 3. Band des Schulwerks > „Musik für Kinder“ übernahm (Regner 1980, 235f.). Mit Huber zusammen veröffentlichte Orff 1942 zwei Hefte „Musik der Landschaft. Volksmusik in neuen Sätzen“ (Orff/Huber 1942) mit Klaviersätzen von Hans Bergese, seinem ehemaligen Assistenten aus der > Günther-Schule.
Der Einfluss bairischer Sprach- und Musiktraditionen auf das Schulwerk begann mit der > „Weihnachtsgeschichte“ (Orff/Keetman 1948), die an Weihnachten 1948 im Bayerischen > Rundfunk gesendet wurde. Der Text in bairischer Mundart stammt von Orff, die Komposition von Gunild Keetman. Die Arbeit an der „Weihnachtsgeschichte“ steht am Beginn der Aktivitäten, die zu den Schulfunksendungen führen, aus denen dann die Schulwerkpublikation „Musik für Kinder“ hervorgeht.
Anklänge an die bairische Mundart gibt es schon in den einfachen Sprachversen in Band 1 der „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54). Der Schwerpunkt liegt im Bd. 3 und betrifft folgende Stücke:
Lied: “‘s bunkad Manderl“ (S. 6f.)
„Paukenbässe“: Übungen für 2 Pauken in c und g, mit den für die bairische Musik typischen Tonika-Dominant-Folgen (S. 8f.)
Ballade „Die Bernauerin“ (S. 13).
Am Ende dieses Bands steht eine Gruppe mit folgenden Stücken:
„Ennstaler Polka“, „Zwei Polkas“, „Dreher“
„Zwiefache aus dem Bayerischen Wald“, „Taktwechseltänze“ und „Zwei Tänze zum Singen und Spielen: 1. Tanzlied 2. Der Schimmi“ (S. 109 ff.).
Die > Zwiefachen sind Paartänze mit einem Taktwechsel zwischen 2er und 3er Takt, die als einfache Dreherschritte bzw. als Walzerschritte ausgeführt werden. Sie sind in Niederbayern, in der Oberpfalz und in den angrenzenden Gebieten Böhmens (Tschechien) beheimatet und werden bis heute gesungen, gespielt und getanzt. Selbstverständlich sollen diese Stücke durch Bewegung realisiert werden. Dabei sollten sowohl der Taktwechsel als metrisches Phänomen als auch dessen Realisierung durch unterschiedliche Tanzschritte Lerninhalt sein sowie auch Aspekte der bairischen Musiktradition Lerninhalte sein.
Anmerkung: Unter Bayern (Adjektiv: bayerisch / bayrisch) versteht man das geographisch und politisch definierte Staatsgebiet. Mit bairisch dagegen bezeichnet die Sprachwissenschaft eine Dialektgruppe. Heute wird das Wort bairisch für authentische kulturelle Traditionen in diesem Sprachgebiet angewendet, wie z.B. bairische Dichtung, bairische Trachten, bairische Musik und bairischer Volkstanz. Die ursprüngliche Schreibweise ist übrigens „Baiern“. Das Ypsilon anstelle des „i“ wurde erst von König Ludwig I. (1786-1868) eingeführt.
Literaturhinweise:
Grill, Tobias: Carl Orffs Bairisches Welttheater, in: Edelmann, Bernd u.a.: Carl Orff. München 2021 (Komponisten in Bayern, Bd. 65), 149-160
Hoerburger, Felix: Die Zwiefachen. Berlin 1956
Huber, Kurt/Kiem, Paul: Oberbayerische Volkslieder mit Bildern. München 1935 (2. Aufl.)
Orff, Carl: Erinnerung. Carl Orff und sein Werk. Dokumentation Bd. 1, Tutzing 1975, 21-41, (oder alternativ:)
Orff, Carl: Erinnerungen. Leben und Werk. Mainz 2020, 20ff.
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Die Weihnachtsgeschichte (1948). Orff-Schulwerk, Jugendmusik. Mainz 1952
Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. Bd. 3, Mainz 1953
Orff, Carl/Huber, Kurt (Hg.): Musik der Landschaft. Volksmusik in neuen Sätzen. 1. Lieder und Tänze für Klavier von Hans Bergese. 2. Zwiefache Tänze für Klavier von Hans Bergese.
Mainz 1942
Regner, Hermann: „Es reiten drei Reiter zu München hinaus“. Zur pädagogischen Bedeutung volksmusikalischer Traditionen im Orff-Schulwerk, in: Feldhütter, Wilfried (Hg.): Lieder, Land und Leute. München 1980, 235-243
Rösch, Thomas: Orff 1895-1982. Der Lebensweg eines Musiktheater-Komponisten im 20. Jahrhundert, in: Edelmann, Bernd u.a.: Carl Orff. München 1921 (Komponisten in Bayern. Bd. 65, 11-44
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