Alte Musik

„Torniamo all’antico e sará un progresso“

(Giuseppe Verdi zugeschriebener Aphorismus)

 

Mit dem unpräzisen Begriff Alte Musik bezeichnet man in der Medienindustrie europäische Kunstmusik bis etwa 1750. Die negative Konnotation des Adjektivs alt im gesellschaftlichen Diskurs setzt die Bedeutung der Alten Musik für die Moderne herunter. Werke von I. Strawinsky, P. Hindemith und C. Orff, Kompositionen der Postmoderne wie von Arvo Pärt oder auch Kompositionen des Modern Jazz Quartet sprechen dagegen. Orff begann nach Misserfolgen bei der kompositorischen Selbstfindung 1919 mit einem „höchst eigenwilligen Studium alter Meister“ (Orff 1975, 7), einem musikwissenschaftlichen Privatstudium in der Musiksammlung der Bayerischen Staatsbibliothek und im Kreis von Kompositionsschülern in seiner Wohnung (Marx 1985, 96ff.). Man befasste sich mit Werken der frühen Mehrstimmigkeit, der Vokalpolyphonie und des beginnenden Generalbasszeitalters. Diese Studien spiegeln sich in folgende Bearbeitungen und Kompositionen:

  1. In der Bearbeitung von J. S. Bachs „Kunst der Fuge“ für mehrere Instrumentalkörper und Chöre (1920) begegnet Orffs Interesse für die mehrchörige venezianische Klangkunst des 16. Jahrhunderts (Andrea und Giovanni Gabrieli), die seine Kompositionstechnik mit großen Klangflächen nachhaltig beeinflusst hat.

 

  1. „Entrata nach William Byrd für fünfchöriges Orchester und Orgel“ (1928).

Die Vorlage bildet das Ostinato-Stück „The Bells“ aus der Sammlung „The Fitzwilliam Virginalbook“ (Fuller Maitland/Barclay Squire 1963, Bd. 1, 274-279). Während es sich bei Byrd „um die Projektion klanglicher Vorgänge, in diesem Fall des bodenständigen englischen Glockengeläuts, auf das besaitete Tasteninstrument“ handelt, macht Orff diesen Prozess rückgängig und versucht, „zum klanglichen Urbild, den ‚primären Klangformen‘ des Glockengeläuts vorzudringen“ (Göllner 1988, 242). Als Kompositionsidee liegt die Mehrchörigkeit mit ihren Klangflächen zugrunde, die bei der Uraufführung 1930 auf dem Messegelände in Königsberg durch eine Übertragung von Lautsprechermasten aus realisiert wurde (Orff 1975, Alte Meister,193ff.). Für das OSW sind folgende Aspekte der Beschäftigung Orffs mit der Elizabethanischen Virginalmusik von Bedeutung: Die zahlreichen Ostinatovariationen, Grounds genannt (vgl. z.B. Fuller Maitland/Barclay Squire 1963, Bd. 2,  77, 87, 148) und die aus der Improvisation kommende und deshalb von der strengen Stimmführung befreite, an Klanggriffen orientierte Spielweise auf dem Tasteninstrument.

 

  1. Dramaturgische und musikalische Neufassung von Claudio Monteverdis Oper „Orfeo“ unter dem Titel „Orpheus“ (1923/24, Uraufführung 1925 in Mannheim), Bearbeitungen von Monteverdis „Lamento d‘Arianna“ und „Ballo delle Ingrate“. Orffs kompositorische Auseinandersetzung mit Monteverdi (Orff 1975, Alte Meister, 15ff.) begann mit dem Studium des „Orfeo“. Die Anregung dazu kam 1921 von dem Musikanthropologen C. Sachs (Weinbuch 2010, 54 ff., Rösch 2022, 85f.). In der Bayerischen Staatsbibliothek studierte Orff die gedruckte Partitur von 1609. D. Günther erstellte eine deutsche Textfassung. Orff nahm dramaturgische Veränderungen vor und arrangierte Generalbass und Instrumentalsatz; dafür zog er nach Möglichkeit historische Instrumente heran. Von Bedeutung für Orffs Werk wurde seine Neufassung des „Lamento d’Arianna“, denn der absteigende Bass des Anfangs bildet das Material für die ersten Takte der „Carmina Burana“ (Notenbild: Orff 1975, 30).

 

  1. Cantus-Firmus-Sätze (Orff 1932, Neuausgabe: Orff 1954).

Orff hat mit seinem Schülerkreis, zu dem die Münchner Komponisten W. Egk und K. Marx gehörten, auch die Technik des Cantus-Firmus-Satzes studiert (Orff 1975, 122f.). Für die kurzen Kompositionen von 1932 greift er auf die organale (parallele) Stimmführung zurück, wie z.B. in „Christ ist erstanden“ (Orff 1954, 4 f.). Daneben enthält das Heft auch Diskantsätze, bei denen die übernommene Melodie in der Oberstimme liegt, wie z.B. in „Es ist ein Ros‘ entsprungen“ oder „Innsbruck ich muss dich lassen“ (Orff 1954, 4 f., 9 f.).

 

  1. „Kleines Konzert für Cembalo, Flöte, Oboe, Fagott, Trompete, Posaune und Schlagwerk nach Lautensätzen aus dem sechzehnten Jahrhundert“ (1928).

Angeregt durch den Lautenisten H. Bischof befasste sich Orff mit der Lautenmusik des 16. Jahrhunderts und lernte so den Typus der Intavolierung kennen, eine Übertragung von Vokalmusik auf Laute oder Tasteninstrument. Hier wird der strenge Satz zugunsten von vertikalen Klanggriffen aufgeben, die mit Linien aus formelhaften Spielfiguren verbunden sind (Kugler 1975). Anregungen hierzu kamen von der Cembalistin A. B. Speckner, die an der > Günther-Schule von etwa 1926 an Klavier unterrichtete und den aus der Improvisation geborenen Stil der Cembalisten und Organisten des 16. Jahrhunderts wieder aufleben ließ. In Speckners Sammlung findet sich der > „Gassenhauer“ des Lautenisten Hans Neusiedler (Speckner 1972, 18-23), dessen Fassung für > Orff-Instrumente zu einem der bekanntesten Stücke des OSWs > „Musik für Kinder“ (Orff/Keetman 1950-54, Bd. 4, 52-59) geworden ist.

 

Orffs Beschäftigung mit der Alten Musik hat Bedeutung für das künstlerische und das Schulwerk, wenn man an Tanztypen, Lieder, modale Tonarten (> Modi), Klangflächen, > Bordun und > Ostinato-Strukturen denkt. Folgende Stücke im OSW zeigen das besonders deutlich:

– Der „Sommerkanon“ („Sumer is icumen in“), ein Doppelkanon des späten 13. Jahrhunderts aus England, in: Orff/Keetman 1950-54, Bd. 2, 90-95. Die Stufenharmonik I – II (C – d) spielt auch in anderen Stücken dieses Bandes eine Rolle. Bereits in der > „Rhythmisch-melodischen Übung“ (Orff 1933, 29f.) bringt Orff mehre Bausteine mit dieser typischen I – II Stufenharmonik.

– Paraphonie, vor allem die Parallelführung in Dreiklängen und Terz-Sextklängen, finden sich in „Sankt Martine“ (Orff-Keetman 1950-54, Bd. 2, 102f.), „Es ist die wunderschönste Brück“ (ebd. Bd. 4, 43f.), „Käuzlein“, „Kukuk hat sich zu todt gefall’n“, „Zwischenspiel“ und „Urlicht“ (ebd., 44-49) und in weiteren Stücken. Das schönste Beispiel hierzu ist der Sonnengesang des Hl. Franziskus „Incipiunt Laudes Creaturarum“ (ebd. Bd. 5, 64ff.).

– „Der jüngste Tag“ (ebd. Bd. 4, 40-42) mit Rezitation und Parallelismus hat das geistliche Spiel des späten Mittelalters zum Vorbild.

Die Beschäftigung Orffs mit der Alten Musik holt wissenschaftliches Material aus seiner historischen Isolation und verleiht ihm eine neue künstlerische Dynamik. Das lässt sich als Parallele zu Orffs Beschäftigung mit der Vergleichenden Musikwissenschaft (heute > Musikethnologie) deuten. Es gibt sogar eine unmittelbare Verbindung, denn es war der Musikanthropologe C. Sachs, der 1921 zu ihm aus genialer Intuition heraus gesagt hatte „Sie sind der geborenen Musikdramatiker, Ihr Feld ist die Bühne. Gehen Sie beim ersten Musikdramatiker in die Lehre!“ (Orff 1975, Alte Meister, 14). Sachs hat also die handwerklich-künstlerische Auseinandersetzung mit Monteverdis Musik angeregt und nicht ein musikwissenschaftliches Studium. Sachs war es dann auch, der 1923 in Berlin die für das Schulwerk so wichtige Begegnung Orffs mit außereuropäischen Perkussionsinstrumenten ermöglicht hat, die für die sog. > Orff-Instrumente zum Vorbild wurden (Rösch 2022).

 

Literaturhinweise:

 

Fuller Maitland J. A./Barclay Squire W. (Ed.): The Fitzwilliam Virginal Book. Leipzig 1899, Reprint in 2 Bänden: New York 1963

Göllner, Theodor: Carl Orff und die alten Meister, in: Bayerische Akademie der Schönen Künste (Hg.): Jahrbuch 2/1. München 1988, S. 238-247

Kugler, Michael: Die Musik für Tasteninstrumente im 15. und 16. Jahrhundert. Wilhelmshaven 1975 (Taschenbücher zur Musikwissenschaft Bd. 41)

Marx, Karl: Erinnerungen an Carl Orff, in: Leuchtmann, Horst (Hg.): Carl Orff. ein Gedenkbuch. Tutzing 1985, 93-110

Orff, Carl: Cantus-firmus-Sätze I. Mainz 1932. (Neudruck: Mainz 1954)

Orff, Carl: Rhythmisch-melodische Übung. Mainz 1933 (OSW Elementare Musikübung)

Orff, Carl/Keetman, Gunild: Musik für Kinder. Orff-Schulwerk. 5 Bde., Mainz 1950-54

Orff, Carl: Lehrjahre bei den Alten Meistern. Tutzing 1975 (Dokumentation Carl Orff und sein Werk, Bd. 2)

Rösch, Thomas: Curt Sachs und Carl Orff – Einflüsse der Wissenschaft auf die Musik, in: Kalcher, Anna Maria (Hg.): Orff im Wandel der Zeit. Kunst trifft Pädagogik. Wiesbaden 2022, 83-104)

Speckner, Anna Barbara: Aus alten Spielbüchern. 32 Tänze und Stücke aus dem 16. und 17. Jahrhundert für Tasteninstrumente gesetzt von A. B. Speckner. Mainz 1972

 

Medien: Carl Orff: Lamenti. Trittico teatrale liberamente tratto da opere di Claudio Monteverdi. Dirigent: Kurt Eichhorn. Regie: Carl Orff. 2 Vinyl LP in Kassette, Acanta 1982

Claudio Monteverdi/Carl Orff: Orpheus. Vinyl LP Sonderauflage BASF Parnass (Diese Aufnahme des Orpheus ist mit der Version „Lamenti“ 1982 identisch)

Claudio Monteverdi/Carl Orff: L’Orfeo/Orpheus. German version by C. Orff. Audio CD Profil Edition Günter Hänssler

Erstellt am 04.01.2020
Bearbeitet am 8.2.2023
Copyright 2020 by Michael Kugler