Afrikanische Musik (Bezug: Orff-Schulwerk)

Die Beziehung Carl Orffs und Gunild Keetmans zu schwarzafrikanischer Musik lässt sich unter drei Gesichtspunkten betrachten:

– Instrumente, Tonaufnahmen, Literatur

– Strukturelle Aspekte

– Reise in den Senegal 1966

Carl Orffs erste inspirierende Konfrontation mit schwarzafrikanischer Musikkultur fand 1923 in Berlin bei einem Treffen mit dem Musikanthropologen Curt Sachs in der Staatlichen Instrumentensammlung statt. Sachs führte ihn durch die Abteilung exotischer Instrumente aus aller Welt und betonte dabei besonders den Zusammenhang von > Perkussion und Tanz (Rösch 2022, 88ff.). Er verabschiedete Orff mit dem Satz: „Am Anfang war die Trommel.“ (Orff 1976, 15). Orff beschäftigte sich auf die Anregung von Sachs hin mit musikethnologischer Literatur von Sachs, Robert Lachmann und Richard Wallaschek (Weinbuch 2010, 62) und kaufte für die Günther-Schule musikethnologische Schallplatten aus der Reihe „Musik des Orients“. Die Platten „Afrikanische Musik“ und „Haussa-Musik“ sind noch erhalten (Fischer 2009, 190, Archiv OZM). Mit Sicherheit hat Keetman diese Schallplatten gehört und ebenso „afrikanische Tänze, begleitet durch Rhythmusinstrumente (Rasseln, Trommeln, Klappern etc.) und Gesang live erlebt (Keetman 2011, 45).

In der Günther-Schule verwendete man von Anfang an kleine Perkussionsinstrumente, u.a. auch Rasseln und Rasselgehänge, die „nach exotischen, meist afrikanischen Modellen, die in jedem völkerkundlichen Museum zu finden sind“ (Orff 1976, 18) von den Schülerinnen selbst hergestellt wurden. Die klangästhetische Vorstellung von Musik in der Günther-Schule war also vorwiegend perkussiv, zweifellos eine Parallele zu schwarzafrikanischer Musik. Orffs Suche nach Melodieinstrumenten für das Orchester der > Günther-Schule nahm die entscheidende Wende durch ein westafrikanisches Xylophon mit Kalebassenresonatoren, ein Balafon (Vársany 2015, 180), das er von zwei Missionsschwestern geschenkt bekam (Orff 1976, 87ff.). Das Original befindet sich in der Carl Orff-Stiftung Dießen. Das Balafon ist in Westafrika weit verbreitet und seine Musik und Spieltechnik wird inzwischen auch in westlichen Ländern gelehrt. Dieses, von Orff irrtümlich Marimba genannte Instrument löste bei Gunild Keetman und den Schülerinnen der Günther-Schule begeisterte Improvisationsversuche aus, die auch mit Tanz verbunden waren (Orff 1976, 96). Man versuchte auch das vierhändige Spiel, wie es auch in Schwarzafrika praktiziert wird. Fast gleichzeitig entdeckte eine Günther-Schülerin im Hamburger Hafen ein einfaches Kastenxylophon, „das ein Matrose, der eben aus Kamerun gekommen war, im Hafen unter der Hand verkauft hatte“ (Orff 1976, 102) und brachte es nach München. Dieses „Kaffernklavier“, wie man das Instrument damals in einem abwertenden Jargon nannte „… war ein Hybrid: Der Resonanzkasten entsprach der ebenen Trogform, die Anbindung der Klangplatten durch Schnurumwickelung ist jedoch zweifellos westafrikanische Tradition“ (Varsányi 2015, 182). Dieser Typus wurde zum Vorbild für die Kastenxylophone des > Orff-Instrumentariums, deren Prototypen der Instrumentenbauer Karl Maendler in München für die Günther-Schule hergestellt hat (Orff 1976, 102ff.).

Die Ethnologin Isabel Weinbuch setzt in ihrer Untersuchung Orffs Konzept der > Elementaren Musik und afrikanisches Musikdenken in Beziehung: „Die Suche nach einer Elementaren Musik führt beinahe zwangsläufig zu einer Beschäftigung mit afrikanischer Musik. Zwar kann konkret kein afrikanischer Einfluss auf Orffs Elementare Musik ausgemacht werden, aber die Nähe beider Musikkonzepte ist frappierend“ (Weinbuch 2010, 82). Genauso sieht es nicht nur die Musikethnologin Barbara Wrenger in ihrem kulturvergleichenden Rundfunkbeitrag „Carl Orff und Afrika“ (Wrenger 1995) sondern auch der weltbekannte afrikanische Musikwissenschaftler J. J. Kwabena Nketia (Nketia 1975) und der Musikpädagoge William Komla Amoaku, beide aus Ghana (Nketia 1971): “Ich kann mir kein anderes Lehrwerk vorstellen, das so sehr unserem eigenen traditionellen Ansatz in Belangen künstlerischer Entwicklung entspricht, wie das von Orff“ (Amoaku 1999, 3f.). Und Nketia sagt: „Nach afrikanischer Tradition sind Sprache, Rhythmus und Bewegung die Marksteine auf dem Weg zur Musik. Das ORFF-SCHULWERK, das ihnen noch die für alles Musizieren unerlässliche Komponente des Schöpferischen hinzufügt, steht daher der afrikanischen Vorstellung vom Musikmachen sehr nahe“ (Nketia 1971). Wie Orff bezieht sich auch Wrenger auf das altgriechische Konzept der > Musiké, das „Wort, Ton und Körperbewegung als organische Einheit“ betrachtet (Wrenger (1995, 5). Die Nähe zu Orff und zur Musiké liegt in der primären Bedeutung der > Sprache, denn „afrikanische Musik ist sprachgeboren und immer eng an die Sprache gebunden in Bezug auf ihre rhythmische und melodische Strukturbildung“ (ebd. 5).

Als Kennerin schwarzafrikanischer Musik (vgl. Gansemans/Schmidt-Wrenger 1986) zeigt Wrenger in einem Vergleich mit Tonbeispielen von Gunild Keetmans Komposition „Ekstatischer Tanz“ und „einem Stück ritueller Tanzmusik der Ewe im Süden Ghanas“ deutliche Strukturparallelen auf (ebd. 7). Diese liegen in erster Linie in der Verwendung von Patterns und abgestuften perkussiven Klängen. Cornelia Fischer beschreibt Keetmans Musik als „repetitive Musik“ (Fischer 2009, 188) und stellt Parallelen zu schwarzafrikanischer Musik und zur Minimal Music her (ebd. 198ff. & 211ff.). Pattern und formelhaftes Material bilden in beiden Musikarten das Material. In schwarzafrikanischer Musik existiert kein spezifischer Musikbegriff wie in Europa sondern die entsprechenden Begriffe fassen meist Musik, Tanz und Erzählformen zusammen. Auch das kann als Parallele zu Orffs Konzept der > Elementaren Musik verstanden werden, ebenso dass die Instrumente „nach dem motionalen Aspekt ausgewählt werden“ und in erster Linie als „Mittel zur Ausdruckssteigerung“ dienen (Fischer 2009, 199).

Die unmittelbare Begegnung Orffs und Keetmans mit afrikanischer Musik ereignete sich auf einer Reise vom 3.4.1966 bis 16.4.1966 in den Senegal. Den Anlass bildete eine Einladung der Deutschen Afrika-Gesellschaft zum „Festival Mondial International des Arts Nègres“ (Orff-Zentrum 2016, 17), auf dem der Präsident des Senegal, der Politiker und Schriftsteller Leopold Sedar Senghor Höhepunkte afrikanischer Kunst der Weltöffentlichkeit präsentieren wollte. Keetman und Orff nahmen an Tanz- und Musikvorführungen von Gruppen aus Niger, Sambia, Mali, Liberia und Ghana teil. Keetman hat diese Vorführungen in ihrem Afrika-Tagebuch detailliert beschrieben. Am 12.4.1966 fand ein Treffen Orffs mit Nketia statt, auf dem Schallplattenaufnahmen aus Orffs „Prometheus“ und aus dem Orff-Schulwerk vorgespielt wurden. Die dabei zutage tretenden Parallelen riefen bei den afrikanischen Musikern ein großes Interesse am Schulwerk hervor. Orff sprach eine Einladung nach Salzburg und Diessen aus, der die Musiker im Juni1966 folgten. Das Ergebnis dieses Austauschs war das Schulwerkheft „Orff-Schulwerk in the African Tradition“ (Amoaku 1971). Dieses Heft hatte natürlich keinen weiter reichenden Erfolg, denn die schwarzafrikanische Musikpraxis realisiert ja bereits alle Merkmale von Orffs Elementarer Musik.

Bei Orff hinterließ der Besuch im Senegal Spuren in seinem Drama „Prometheus“. Im Orchester wird eine afrikanische Schlitztrommel verwendet und eine auf dem Markt gekaufte Maske wurde zum Vorbild für die Maske der Titelfigur bei der Uraufführung des „Prometheus“ 1968. Barbara Wrenger sieht in Orffs dramaturgischer Vorstellung eine grundlegende Verwandtschaft zu Afrika: „Der Schauspieler – Sänger – Tänzer, den Orff sich als Ideal für seine Bühnenrollen vorstellte – in Afrika ist er die Regel. Mit Instrumenten sprechen, sich singend rhythmisch bewegen, musizieren und gleichzeitig tanzen – in afrikanischen Musikkulturen geschieht das selbstverständlich und ohne besonderes Training im Schulunterricht“ (Wrenger 1995, 7). Orff konnte deshalb nur mit Künstlern arbeiten, „die in der Lage waren, jenseits ihrer klassischen Ausbildung zur Urform des Mimen zurückzufinden, der alles in einer Person vereint und aus dieser Fülle heraus gestaltet. (…) Nicht die ‚Marimba‘ oder Rasseln und Schlitztrommeln machen das ‚Afrikanische‘ an Orff aus, sondern sein Denken über Musik und sein Umgang mit musikalischen Mitteln.“ (Wrenger 1995, 7f.).

 

Anmerkung:

Der Autor bittet um Verständnis, dass in diesem Artikel von afrikanischer und schwarzafrikanischer Musik die Rede, obwohl der Musikethnologe und Afrikanist Gerhard Kubik mit Recht gewarnt hat: „Es ist eigentlich ein Wagnis, den Ausdruck afrikanische Musik zu verwenden; denn es gibt keine afrikanische Musik, sondern nur viele afrikanische Musikarten“ (Kubik 1983, zit. Fischer 2009, 198). Cornelia Fischer zitiert am Beginn ihrer Vergleiche von Keetmans Musik mit schwarzafrikanischer Musik diese Warnung. Sie greift zwar gleichfalls zu dieser Vereinfachung, belegt aber ihre Aussagen mit spezieller musikethnologischer Fachliteratur.

 

Literaturhinweise:

 

Amoaku, W. Komla: African Songs and Rhythms for Children. A Selection from Ghana by W. K. Amoaku. Mainz 1971 (Orff-Schulwerk in the African Tradition)

Amoaku, W. Komla > Out Orff Africa, in: Orff Heute, Orff Today, 1999, Nr. 2, 3-6 Interview mit Komla Amoaku

Fischer, Cornelia: Gunild Keetman und das Orff-Schulwerk. Elementare Musik zwischen künstlerischem und didaktischem Anspruch. Mainz 2009

Gansemans, Jos/Schmidt-Wrenger, Barbara: Zentralafrika. Leipzig 1986 (Musikgeschichte in Bildern Bd. 1, Musikethnologie, Lieferung 9)

Gbolonyo, Kofi/Goodkin, Doug: The World to My Village. My Village to the World: Orff-Schulwerk in Ghana, in: Haselbach/Stewart 2021, 46-53

Haselbach, Barbara/Stewart, Carolee (Eds.): Orff-Schulwerk in diverse Cultures. An Idea that Went Round the World. (Texts on Theory and Practice of Orff-Schulwerk, Vol. 2. Salzburg 2021

Keetman, Gunild: Erinnerungen an die Günther-Schule (1978), in: Haselbach, Barbara (Hg.): Studientexte zu Theorie und Praxis des Orff-Schulwerks. Basistexte aus den Jahren 1932-2010. Mainz 2011 (deutsch-englisch), 44-64

Kubik, Gerhard:

Kugler, Michael (Hg.): Elementarer Tanz – Elementare Musik. Die Günther-Schule München 1924 bis 1944. Mainz 2002

Nketia, Kwabena J. H.: The Music of Africa. London 1975

Nketia, Kwabena J. J.: Vorwort & Einführung, in: Amoaku 1971, 2-14 (Deutsch/Englisch)

Orff, Carl: Elementare Musikübung, Improvisation und Laienschulung (1932/33), in: Kugler 2002, 183-192

Orff, Carl: Schulwerk. Elementare Musik. Tutzing 1976

Orff-Zentrum München: Komponist und Kosmopolit. Carl Orff auf Reisen. Kabinettaustellung, Katalog. München 2016

Varsány: András: Carl Orff und die Musikinstrumente anderer Kulturen, in: Rösch, Thomas (Hg.): Text, Musik, Szene – Das Musiktheater von Carl Orff. Mainz 2015, 175-196

Weinbuch, Isabel: Das musikalische Denken und Schaffen Carl Orffs. Ethnologische und interkulturelle Perspektiven. Mainz 2010

Wrenger, Barbara: Orff und Afrika. Eine Sendung von B.W. im Bayerischen Rundfunk (1995), Manuskript

 

Archivmaterial und Medien im Orff-Zentrum München:

Gunild Keetman: Afrika 3. April 66 – 16. April, Senegal. Handschriftliches Heft

Mit Xylophon und Fantasie. Das Orff-Schulwerk in Afrika. Film

 

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